Die Heiratsschwindlerin
Ende der Unterrichtsstunde war Ruperts Gesicht gerötet. Er war völlig gefangen von der Debatte und der geladenen Atmosphäre zwischen ihnen. Allan beugte sich auf seinem Stuhl vor, nahe zu Rupert hin, ihre Gesichter berührten sich fast.
Dann hatte sich Allan wortlos ein wenig weiter vorgebeugt und mit seinen Lippen zart die Ruperts gestreift. Rupert war wie elektrisiert. Er hatte die Augen geschlossen und Allan durch schiere Willenskraft dazu gebracht, ihn wieder zu küssen, ihm noch näher zu kommen. Und langsam, sanft, hatte Allan seine Arme um Rupert gelegt und ihn heruntergezogen, von seinem Sessel auf den Teppich, in ein neues Leben.
Danach hatte Allan Rupert genauestens erklärt, welches Risiko er dabei eingegangen war, den ersten Schritt zu wagen.
»Du hättest mich ins Gefängnis bringen können«, hatte er auf seine trockene Art gesagt und dabei Ruperts zerzaustes Haar gestreichelt. »Oder mich zumindest ins erste Flugzeug nach Hause verfrachten können. Studenten anzumachen gilt nämlich nicht direkt als moralisch.«
»Ich scheiß auf die Moral«, hatte Rupert erwidert und sich zurückplumpsen lassen. Ihm fiel eine Zentnerlast von der Seele, er fühlte sich befreit. »Herrje, ich fühle mich unglaublich, ich habe ja nie gewusst …« Er brach den Satz ab.
»Nein«, hatte Allan amüsiert gesagt. »Das dachte ich mir.«
Dieser Sommer war in Ruperts Gedächtnis eingegraben wie ein einziger großer Rausch. Er hatte sich Allan ganz und gar hingegeben, hatte die ganzen Sommerferien mit ihm verbracht. Er hatte mit ihm gegessen, mit ihm geschlafen, hatte ihn respektiert und geliebt. Niemand sonst schien zu zählen oder überhaupt zu existieren.
Für das Mädchen Milly hatte er sich nicht im Geringsten interessiert. Allan war ziemlich von ihr eingenommen gewesen, hatte ihre Naivität bezaubernd gefunden, sich über ihr unschuldiges Geplapper amüsiert. Aber in Ruperts Augen war sie lediglich ein weiteres oberflächliches, albernes Geschöpf. Eine Zeitverschwendung, eine Rivalin, was Allans Aufmerksamkeit anbelangte.
»Rupert?« Die Frau neben ihm stupste ihn an, und Rupert merkte, dass das Lied zu Ende war. Er setzte sich rasch und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
Aber der Gedanke an Milly hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, er konnte an nichts anderes mehr denken. »Milly aus Oxford« hatte sie sich am Telefon genannt. Wut und Angst überkamen Rupert, als er daran dachte, wie seine Frau ihren Namen ausgesprochen hatte. Was dachte Milly sich eigentlich dabei, ihn nach zehn Jahren anzurufen? Wie war sie an seine Nummer gekommen? War ihr nicht klar, dass sich alles geändert hatte? Dass er nicht schwul war? Dass alles ein schrecklicher Fehler gewesen war?
»Rupert! Du bist mit der Lesung dran!«, zischte die Frau ihm zu, und Rupert kam abrupt zu sich. Er legte seinen Liedertext sorgfältig fort, nahm seine Bibel und stand auf. Langsam schritt er zum Pult, legte seine Bibel darauf und blickte seine Zuhörer an.
»Ich werde aus dem Matthäusevangelium lesen«, verkündete er. »Das Thema lautet Verleugnung. Wie können wir mit uns selbst leben, wenn wir den verleugnen, den wir wahrhaftig lieben?«
Mit zitternden Händen öffnete er die Bibel und holte tief Luft. Ich lese dies für Gott, sagte er sich – wie alle Leser in der St. Catherine’s Church das taten. Ich lese es für Jesus. Das Bild eines ernsten, verratenen Gesichts stieg vor ihm auf, und er verspürte ein vertrautes Schuldgefühl. Aber nicht das Antlitz Jesu sah er vor sich, sondern Allans Gesicht.
7. Kapitel
Am nächsten Morgen warteten Milly und Isobel, bis ein paar Gäste in die Küche hinunterkamen, und stahlen sich dann davon, ehe Olivia ihnen unliebsame Fragen stellen konnte.
»Okay«, sagte Isobel, als sie beim Auto waren. »Ich glaube, um halb neun geht ein Schnellzug nach London. Den solltest du erwischen.«
»Was ist, wenn er etwas sagt?«, meinte Milly und blickte zu Alexanders zugezogenem Fenster hinauf. »Was, wenn er es Simon erzählt, während ich fort bin?«
»Das wird er schon nicht«, erwiderte Isobel bestimmt. »Simon arbeitet doch den ganzen Vormittag, oder? Alexander wird gar nicht an ihn rankommen. Und bis dahin bist du immerhin schon schlauer.« Sie öffnete die Autotür. »Komm, steig ein.«
»Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte Milly, während Isobel den Motor anließ. »So nervös war ich.« Sie wand eine Haarsträhne fest um ihren Finger und ließ sie dann wieder los. »Zehn Jahre
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