Die Henkerstochter und der schwarze M�nch
gehört, aber diesen Spruch nicht.«
Simon schluckte, bevor er weitersprach. Vor Jakob Kuisl war dessen Vater der Henker im Ort gewesen und davor sein Großvater; eine wahre Dynastie von Scharfrichtern, die sich mittlerweile über eine ganze Reihe bayerischer Ortschaften erstreckte. Die Kuisls hatten zusammen vermutlich mehr gewinselte fromme Sprüche gehört als der Papst persönlich.
»Wenn es kein Bibelspruch ist, dann vielleicht eine versteckte Botschaft«, sagte Simon und wiederholte den Satz. »Im Schoße Mariens wirst du der Erste und auch ein Glücklicher sein. Was kann das bedeuten?«
Der Henker zuckte mit den Schultern, bevor er wieder zur Flasche griff. »Hol’s der Teufel, was geht’s mich an?« Er setzte zu einem Schluck an, so lange, dass Simon befürchtete, er könnte daran ersticken. Endlich stellte Jakob Kuisl die Flasche wieder ab. »Ich für meinen Teil werd den Scheller am Samstag rädern, ich kann euch ohnehin nicht weiterhelfen. Bis dahin gibt’s noch viel zu tun. Die Leut wollen was zum Gaffen haben.«
An den rotgeäderten Augen des Henkers erkannte Simon, dass der Schnaps wohl langsam zur Neige ging. Jakob Kuisl wippte auf seinem Schemel immer weiter nach vorne. Eine ganze Flasche Branntwein schien offenbar selbst füreinen sechs Fuß großen, breitschultrigen Mann ein wenig zu viel.
»Ihr werdet eine Medizin brauchen«, sagte Simon seufzend. »Sonst habt Ihr morgen keinen klaren Kopf.«
»Brauch keine Medizin von euch gottverdammten Quacksalbern. Ich mach meine Medizin selbst.«
Der Medicus schüttelte den Kopf. »Diese Medizin gibt es nur bei mir.« Er stand auf und ging hinüber in die Stube, wo Anna Maria Kuisl am Tisch saß und noch immer den Riss in seinem Rock nähte.
»Macht Eurem Mann einen Becher starken Kaffee«, sagte er. »Aber spart nicht an den Bohnen. Gut ist er erst, wenn der Löffel im Becher nicht mehr umfällt.«
Magdalena wurde durch ein monotones Gemurmel geweckt, das ihren Kopf immer mehr ausfüllte, bis sie glaubte, er müsste platzen. Die Kopfschmerzen waren noch stärker als beim letzten Erwachen. Ihre Lippen waren trocken und spröde; wenn sie mit der Zunge darüberstrich, fühlten sie sich an wie die Borke einer Eiche. Sie öffnete die Augen, und helle Lichtblitze blendeten sie. Nach einiger Zeit hörte das Funkeln auf, ihr Blick wurde klarer, und sie schaute ins Paradies.
Kleine, dicke Engel umschwirrten einen umkränzten Heiland, der mitleidig von seinem Kreuz auf sie hinuntersah. Die Evangelisten Lukas und Johannes hielten an den Rändern eines Sternenhimmels Wache, tief unten krümmte sich die Schlange Luzifer, durchbohrt von der Lanze des Erzengels Michael, während die zwölf Apostel auf luftigen Wolken thronten. Alle Figuren erstrahlten in leuchtendem Gold, hellem Silber und in allen schillernden Farben des Regenbogens. Noch nie hatte Magdalena eine derartige Pracht gesehen.
War sie im Himmel?
Wenigstens liege ich nicht mehr in einem Sarg, dachte sie. Das ist auf alle Fälle schon mal eine Verbesserung.
Als sie den Kopf drehte, erkannte sie schnell, dass sie sich nicht im Himmel, sondern in einer Art Kapelle befand. Sie lag mit dem Rücken auf einem steinernen Altar, umgeben von vier brennenden Kerzen. Die Wände des weiß gekalkten Raums waren gepflastert mit pompösen Ölgemälden, die verschiedene Bibelszenen zeigten. Es waren so viele Bilder, dass kaum Platz zwischen ihnen blieb. Durch ein winziges Fenster im Osten schien die Sonne herein, trotzdem war es auf dem steinernen Untergrund so kalt, dass Magdalenas Muskeln sich anfühlten wie Eis.
Das Gemurmel kam von der Seite. Magdalena drehte den Kopf noch ein Stück und sah Bruder Jakobus, der, gekleidet in ein schlichtes schwarzes Gewand, vor einem kleinen Marienaltar kniete und mit gesenktem Haupt leise betete. Das goldene Kreuz mit den zwei Querbalken baumelte vor seiner Brust.
»Ave Maria, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesu …«
Magdalena versuchte sich vorsichtig aufzurichten. Vielleicht war es ihr ja möglich zu fliehen, ohne dass der Mönch es merkte? Nur ein paar Schritte hinter ihr befand sich eine niedrige Holztür mit einer vergoldeten Klinke. Wenn sie diese erreichte …
Als sie sich aufstützen wollte, merkte sie, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtung.
Christi, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt...
In Erinnerung an den Bibelspruch
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