Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Sie lauschte in die Dunkelheit, aber alles war still, abgesehen von Ludolf, der nebenan leise vor sich hinschnaufte. Es war kein Schnarchen, wie bei ihrem Großvater, der das halbe Haus um den Schlaf bringen konnte, eher ein lautes Atmen oder Japsen.
Was war das? Jetzt hörte sie wieder Rufe. Diesmal war es kein Traum. Rasch stand sie auf. Ihre Kammer hatte ein kleines Fenster, das mit einer Klappe verschlossen war und in Richtung Berg schaute. Sie öffnete und horchte. Der Aufruhr kam von der Burg oder dem Ort selbst. Hatte der Amtmann schon wieder jemanden verhaftet? Wenn er so weitermachte, wäre er der nächste Tote. Obwohl sie nicht viel Mitleid verspüren würde, wenn er erschlagen werden sollte.
Agnes ging in die Stube. Die Tür zur Kammer quietschte ein wenig, aber Ludolf lag schlafend in seinem Bett. Sie bemühte sich, kein Geräusch zu machen, um ihn nicht aufzuwecken. Sie huschte zu einem der beiden Fenster, um zu beobachten, was draußen geschah.
Sofort fielen ihr die vielen beleuchteten Fenster der Burg auf. Vom Haupthaus sah sie zwar nur eine Ecke, weil Mauer und Turm die Sicht versperrten, aber überall waren Lichter angezündet. Nun kamen einige Leute mit Fackeln den Siek herunter und liefen zum Hang unterhalb der Mauer. Sie verteilten sich zwischen den Büschen, als würden sie etwas suchen. Die Neugier hatte Agnes gepackt.
»Was ist los?«
Agnes schrie leise auf. Sie wirbelte herum.
Ludolf stand hinter ihr. Er war durch das Quietschen der Tür wach geworden. Im Halbschlaf hatte er jemanden durch das Zimmer schleichen sehen und war ganz still liegen geblieben. Es hätte ja auch ein Dieb sein können. Erst im Mondschein erkannte er Agnes.
»Willst du mich umbringen, du Wahnsinniger? Mich so zu erschrecken!«
»Entschuldige bitte. Aber was ist los, dass du durch den Raum schleichst?«
»Ich wollte dich nicht wecken. Aber etwas geht bei der Burg vor. Sieh doch selbst.«
Ludolf schaute auch hinaus. Mehrere Menschen waren zu sehen, einige mit Fackeln, anderen reichte das Licht des Mondes. Sie liefen unterhalb der Burg hin und her.
»Sollten wir uns das nicht besser ansehen?«, fragte Agnes. »Hoffentlich hat der Amtmann nicht wieder eine Dummheit gemacht.«
»Besser wär’s.« Ludolf konnte dem Geschehen draußen kaum die richtige Aufmerksamkeit schenken. Immer wieder verirrte sich sein Blick zu Agnes, die im vollen Licht des Mondes am anderen Fenster stand. Sie trug nur ein kurzes Leinenhemd, das ihr knapp über die Hüfte reichte. So unschicklich hätte sie sich am Tage nie gezeigt. Wahrscheinlich war ihr in der Aufregung auch gar nicht bewusst, in welcher Aufmachung sie sich gerade befand. Zum ersten Mal sah Ludolf ihre Beine. Wirklich schöne Beine.
»Ich ziehe mir schnell mein Kleid an«, antwortete Agnes und huschte in Richtung der kleinen Kammer davon.
»Schade. So gefällt es mir besser«, murmelte er ganz leise. Er zog sich ein Hemd über und öffnete die Tür.
Gemeinsam liefen sie auf die umherirrenden Nachbarn zu. Aus keinem konnten sie ein vernünftiges Wort herausbringen, alle schienen völlig aufgelöst. Sie schnappten lediglich Wortfetzen wie »mitsuchen« und »Selbstmord« auf.
Plötzlich erklang ein Stück weiter ein Ruf: »Hier ist sie!« Ein Zweiter brüllte nach einem Priester. Sofort strömten die Leute mit einer Handvoll Fackeln zu der angegebenen Stelle. Sie arbeiteten sich durch das Gestrüpp am Hang entlang.
Marie lag auf dem Rücken. Die Augen waren geschlossen, und man erkannte nicht, ob sie noch atmete. Die Stirn war blutig, das Gesicht voller Schrammen, der rechte Arm von einem offenen Bruch entstellt. Das linke Bein war eigenartig verdreht: Der Unterschenkel war unterhalb des Knies in einem unnatürlichen Winkel nach außen gerichtet.
Das war also mit Selbstmord gemeint gewesen. Marie musste sich aus dem Fenster gestürzt haben. Ludolf schaute den Hang empor zur Burg. Genau über ihnen grenzte das große Haupthaus an die Befestigungsmauer. Etwa dort musste Maries Kammer gewesen sein. Hatte sie sich zu viele Vorwürfe gemacht, weil sie ihren Geliebten verraten hatte? Die Angst vor dem Tod war wohl geringer gewesen als der seelische Schmerz, die quälenden Selbstvorwürfe. Oder war es am Ende Mord? Hatte der Amtmann nachgeholfen, da sich seine wichtige Augenzeugin als Fehlgriff herausgestellt hatte? Wenn Marie starb, konnte sie ihre Beobachtungen nicht widerrufen. Der Schmied war und blieb in diesem Fall der Mörder, niemand konnte mehr das Gegenteil
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