Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
beweisen.
Keiner der Bewohner traute sich so recht, näherzutreten. Sie hatten alle nach ihr gesucht, alle waren bereit gewesen, ihren Schlaf für sie zu opfern. Aber der Anblick des Todes hemmte sie.
Agnes aber rannte sofort los und kniete sich neben die Verletzte. Als Nonne hatte sie schon so manchen Verletzten gesehen und behandelt. Ob es nun ein Bauer gewesen war, der von seinem Stier angefallen worden war, ein unvorsichtiger Knecht, der vom Heuboden gefallen, oder eine Magd, die unter ein Fuhrwerk geraten war. Sie strich Marie das Haar aus dem Gesicht und sprach liebevoll zu ihr. Vorsichtig untersuchte sie die Wunden, versuchte abzuschätzen, wie schwer sie waren.
Nach einigen Augenblicken öffnete Marie die Augen. Ein Aufatmen ging durch die Reihe der Zuschauer. Sie lebte noch.
»Wir werden dir helfen. Wir bringen dich gleich in ein Bett, wo wir dich wieder gesund pflegen können und wo du dich so richtig ausruhen kannst. In ein paar Tagen geht es dir bestimmt wieder besser.«
Aber keiner der Anwesenden konnte das so recht glauben – auch Agnes selbst nicht.
Marie musste alle ihre Kraft zusammennehmen, um antworten zu können. Sie klang sehr schwach. Spätestens jetzt wusste man, dass die junge Frau den Morgen nicht mehr erleben sollte. »Ist vorbei. Fühle meine Beine nicht.«
Agnes musste tief durchatmen. Die junge Frau hatte sich wahrscheinlich das Rückgrat gebrochen. Wer würde für sie sorgen, wenn sie wieder zu Kräften käme? Die Eltern? Die waren doch sicher auch nicht mehr die Jüngsten. Gab es Geschwister? Sollte Marie überleben, war sie bis zu ihrem Lebensende auf Hilfe angewiesen. »Wir werden dir helfen. Das bekommen wir bestimmt wieder hin.«
»Dietrich wird mir nie verzeihen. Hab’ ihn verraten. Kann nicht damit leben.« Marie hustete und spuckte Blut. Sie musste sich bei dem Sturz auch einige Rippen gebrochen haben. Knochensplitter waren in die Lunge gedrungen und ließen sie jetzt langsam innerlich verbluten. »Zu spät«, murmelte Marie.
Eine bekannte Stimme scheuchte die Leute zur Seite. Pater Anno kam schnaufend heran. Er keuchte und prustete vor Anstrengung. Er blieb kurz stehen, als er endlich die Verletzte zwischen den Büschen sah. Aufgeregt schlug er ein Kreuz. »Oh, liebe Tochter, was habt Ihr getan!« Er kniete gegenüber von Agnes nieder und nahm Maries freie Hand.
»Will beichten«, hauchte sie und blickte ihn flehentlich an.
Der Priester wurde ganz ernst und schickte alle Anwesenden fort. Nur langsam und widerstrebend folgten die Nachbarn der Aufforderung und gingen zurück zum Siek. Einige der Frauen weinten und beklagten die Ungerechtigkeit der Welt; warum traf es immer die Armen und die Unschuldigen? Andere wiederholten endlos das Vaterunser oder das Ave Maria.
Die Männer fluchten und schimpften, die meisten leise. Es war klar, dass sie dem Amtmann die Schuld für diese Tragödie gaben.
Ludolf war erschrocken über den Hass, der dem Amtmann entgegengebracht wurden. Allerdings hatte Resenbach es letztlich allein sich und seinem Verhalten zuzuschreiben, dass er sich so viele seiner Nachbarn zu Feinden gemacht hatte.
Wo war eigentlich Agnes? Er schaute sich um, konnte sie aber nicht finden. Er musste scharf nachdenken: Sie hatte neben Marie gesessen, als der Pater Anno alle Anwesenden fortgescheucht hatte, um Marie die Beichte abzunehmen. Wohin war sie dann verschwunden?
Es kam wieder Bewegung in die umherstehenden Leute, als sie des Paters gewahr wurden, der sich ächzend den Hang entlang zum Siek schleppte. Einige rannten sofort wieder zu Marie, andere überschütteten den Pater mit Fragen. Der Priester hielt jedoch mit gesenktem Haupt inne und faltete die Hände zu einem Gebet. Dann sagte er: »Sie hat ihre Seele erleichtert und ist nun reinen Herzens zum Herrn aufgestiegen. Holt eine Bahre und tragt ihren Körper in die Kirche.«
Einige fingen an zu weinen, andere riefen aufgebracht, man solle Josef Resenbach auf der Stelle umbringen. Bisher hatten sich die meisten zurückgehalten, doch jetzt, wo klar war, dass man für Marie nichts mehr tun konnte, schrien sie nach Rache.
Sofort meldete sich Anno von Dankersen mit ungewohnt gebieterischer Stimme zu Wort: »Versündigt Euch nicht, liebe Nachbarn! Ich weiß, wie Ihr empfindet. Mir geht es genauso. Mein Innerstes verlangt dringend danach, etwas zu tun. Aber wer von Euch kann in diesem Augenblick sagen, was recht ist? Wir dürfen jetzt nicht mit gleicher Münze heimzahlen, sonst sind wir nicht besser als ein
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