Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
verabschieden.
Ein Novize hatte Pater Anno von Dankersen, Ludolf und sie in dieses Gebäude, in diesen großen Versammlungsraum, geführt. Er hatte sie gebeten zu warten, bis die ehrwürdigen und hochgeachteten Herren erschienen, und sie dann allein zurückgelassen. Der Saal hatte auf der einen Längsseite mehrere große Fenster, die ihn gut erhellten. Auf der gegenüberliegenden Wand waren mehrere Fresken zu sehen: Jesu Geburt im Stall zu Bethlehem, seine Taufe durch Johannes im Jordan mit dem Heiligen Geist in Form einer Taube, sein Weg zur Kreuzigung auf Golgatha und schließlich sein Aufstieg zum Himmel. Auf der Stirnseite des Raumes befand sich eine große, zweiflügelige Eichentür als einziger Eingang. Dem gegenüber standen fünf große gepolsterte Stühle für die Herren und hohen Geistlichen. Alle anderen Personen würden stehen müssen.
Agnes war schon den ganzen Morgen über nervös. Mal wurde ihr siedend heiß, und im nächsten Augenblick fror sie, als ob es tiefster Winter wäre. Immer wieder grübelte sie darüber nach, ob sie wirklich das Richtige taten. Ob es ihnen gelang, die richtigen Worte zu finden. Ach, wenn doch schon Mittag wäre!
Ludolf ging es auch nicht besser. Er lehnte leicht vorgebeugt an dem wuchtigen Mauerwerk, das die Nischen mit den Fenstern voneinander trennte, und drückte seine Arme auf seinen Bauch. Die Aufregungen waren ihm auf den Magen geschlagen.
Ihr Weg zur Burg zurück gestern hatte Ewigkeiten gedauert. Immer wieder waren sie stehen geblieben und hatten miteinander geredet. Er hatte von seinen Reisen und Studien erzählt, in welchen Bibliotheken er schon gewesen war, welche Doktoren er kennengelernt hatte. Besonders lustig war natürlich, welche Eigenarten die Herren an sich hatten. Agnes hatte einiges über ihre Arbeit im Stift erzählt, welchen Spaß ihr der Unterricht machte, welche Bücher sie am liebsten las.
Wenn er sie in den Arm genommen hatte, das war oft geschehen, hatte er immer ganz sacht versucht, sie zu küssen. Wie gerne hätte sie sein Verlangen erwidert, wie gern hätte sie sich gehen lassen. Sie hatte ein eigenartiges süßes Kribbeln gefühlt. Aber dies war nur geborgte Zeit! Eigentlich war sie schon zu weit gegangen. Ein Kuss hätte ihren letzten Rest von Selbstbeherrschung dahinschwinden lassen.
Ludolf wanderte durch den Raum und betrachtete eingehend die Malereien. Aber eigentlich waren seine Gedanken ganz woanders. Er wiederholte murmelnd immer wieder das, was er sagen wollte. Er durfte bloß nichts vergessen. Er schaute auf den kleinen Beutel, der am Fenster lag. Er hatte bestimmt schon fünfmal nachgesehen, ob noch alle Listen da waren.
Plötzlich öffnete sich die große Eingangstür. Ludolf eilte sofort hinüber zu Agnes. Zwei eifrige Pater hielten die Flügel auf und verbeugten sich ehrfürchtig. Der Bischof Otto kam gemächlichen Schrittes mit drei weiteren Herren herein. Er unterhielt sich leise mit dem älteren, der als Einziger nicht wie ein Geistlicher gekleidet war. Ein weiter Mantel aus dunkelrotem Stoff und ein wertvolles Hemd aus besticktem Leinen verrieten ihn als den Bruder des Bischofs, den edlen Herrn Wedekind vom Berge. Er machte einen kränklichen Eindruck. Er war sehr blass, hatte eingesunkene Wangen, sein Gang war auffallend unsicher, beinahe kraftlos. Den beiden folgten zwei Geistliche mittleren und älteren Alters. Der ältere von ihnen war Simon vom Berge, der Dompropst, der dritte Bruder der Familie vom Berge. Nach ihnen kamen noch annähernd zwei Dutzend anderer Kleriker, die sich ringsum verteilten.
Pater Anno war sofort zu seinem Herrn, dem Bischof, geeilt, vor ihm niedergekniet und hatte den hingehaltenen Ring geküsst. Die beiden wechselten leise ein paar Worte. Der Bischof dankte ihm für seine Mühen um das Seelenheil der Menschen bei der Burg. Auch Wedekind lächelte erfreut, als er Anno sah.
Die vier hohen Herren wendeten sich nun den jungen Kundschaftern zu. Agnes ging ebenfalls auf den Bischof zu und erwies ihm das Ritual. Ludolf hielt sich wieder zurück und verneigte sich brav in Richtung der Neuankömmlinge. Der Bischof stellte die beiden als diejenigen vor, die ihm geholfen hatten, ein paar Nachforschungen anzustellen. Sie würden gleich erklären, warum er die Zusammenkunft anberaumt habe.
»Diese treue Jungfer ist Agnes von Ecksten und jener ...«
»Bitte entschuldigt, lieber Mitbruder«, meldete sich der jüngere der vier und trat neben Otto. Er betrachtete Agnes eingehend und begann leise zu
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