Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Körperhaltung und die schwarzgraue Kleidung machte sie einen beherrschten und unnahbaren Eindruck. Sie sah wie jemand aus, der gewohnt war, über andere zu bestimmen. Wenn da nicht die Augen wären. Gerötet und aufgequollen vom Weinen. Bekümmerte und schwermütige Augen. Diese Frau musste wohl Mechthild Fischer, Kunekes Mutter, sein.
»Das ist Oma«, erklärte Mette, und der Großmutter zugewandt fügte sie hinzu: »Luke ist das. Sie spielt mit mir und Gertrude.«
Agnes stellte sich als Luke Scheffer vor. »Ich habe von Pater Anno von Dankersen von dem großen Unglück erfahren, das Eure Familie getroffen hat. Wenn ich irgendwie helfen kann ... Mich um die Kinder kümmern beispielsweise?«
Kunekes Mutter sagte nichts, sondern nickte nur.
»Süße Kinder«, fuhr Agnes fort und zeigte auf die Kleinen.
»Wie viele Kinder habt Ihr?«, fragte die Frau unvermittelt. Ihre Stimme hatte einen dunklen, angenehmen Klang.
»Noch keine. Wir sind erst kurz verheiratet. Später einmal bestimmt.«
Die Frau bekam wieder feuchte Augen. Sie senkte den Blick und wischte sich mit einem Leinentüchlein die Tränen ab. Sie forderte Agnes auf, ins Haus zu kommen, wo man ungestört reden konnte.
Die beiden Frauen setzten sich an einen einfachen Holztisch. Alles in dem Raum war sauber und ordentlich.
Mechthild bedankte sich herzlich für die angebotene Hilfe. »Zum Glück haben wir sehr freundliche und hilfsbereite Nachbarn, die immer da sind, wenn man sie dringend braucht. Ohne sie hätte ich in den letzten zwei Wochen oft nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Und auch die Anteilnahme von Pater Anno tut mir gut.«
Agnes sah den Schmerz der Frau. Sie fragte sich ernsthaft, ob und wie sie Mechthild helfen konnte. Hoffentlich fielen ihr die richtigen Worte ein. »Es hilft uns ganz bestimmt, wenn wir auf Gott und seine Hilfe vertrauen.«
»Glaubt Ihr das?«
»Davon bin ich fest überzeugt.« Agnes erzählte von den Gedanken, die der Apostel Paulus an die Christen in Korinth geschrieben hatte. »Er schreibt, dass Gott treu ist. Gott lässt nicht zu, dass die Prüfungen, die uns auferlegt sind, zu stark für uns sind. Er gibt seine Hilfe und seine Liebe denen, die an ihn glauben. Und unser Herr Jesus Christus sagt:
Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzig gezeugten Sohn gab, damit jeder, der Glauben an ihn ausübt, nicht vernichtet werde, sondern ewiges Leben habe
.«
Kunekes Mutter hatte still zugehört. Es schien, dass sie ein wenig von dem Trost hatte annehmen können. »Woher wisst Ihr so viel aus der Bibel? Ihr sprecht wie der Pater.«
»Ich bin in einem Stift erzogen worden.«
»Dann habt Ihr gute Lehrer gehabt.«
»Die besten und liebsten, die man sich vorstellen kann.«
Die Ältere stand auf und ging zu einem Fenster. Sie blickte in Gedanken versunken hinaus. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Kinderlachen von draußen. Agnes traute sich nicht, die Stille zu durchbrechen. Sie wusste nicht, wie sie das Gespräch wieder in Gang bringen sollte.
Doch dann begann Mechthild Fischer zu reden: »Kuneke hatte an dem Sonntag, als ich sie das letzte Mal sah, Ärger mit unserem allseits geliebten Amtmann Resenbach. Immer wieder das Gleiche. Irgendwelche Listen, die er unbedingt haben muss. Die Papiere stammen noch von meinem Schwiegersohn, der vorher der Amtmann hier am Ort war. Kuneke hat sie aber nicht herausgegeben.«
»Kennt Ihr die Listen?«
»Nein. Kuneke hat sie irgendwo im Haus versteckt. Sie wusste auch nicht, was damit los ist. Es waren nur einige alte Blätter mit Zahlen und Namen. Aber vielleicht hat das auch gar nichts damit zu tun.«
Mechthild trat vom Fenster zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Sie schien sich ein wenig gefangen zu haben. Agnes freute sich darüber, dass sie ihr hatte helfen können. Aber das, was sie hier über Kuneke und den Amtmann erfuhr, war auch nicht schlecht. Eigentlich war sie ja genau deswegen hergekommen.
»Wollte Kuneke nach den Jahren des Alleinseins eigentlich wieder heiraten?«
»Ich denke doch, schon allein wegen der Kinder. Verehrer hatte sie. Aber keinen von denen hätte sie erwählt – bis auf einen. Und ich habe ihr dazu geraten, ihn in Erwägung zu ziehen.« Sie erzählte vom Tuchhändler Ludingher Dudenhausen aus Minden. Nach dem Ende des Trauerjahrs im letzten Sommer war er das erste Mal hierhergekommen. Er hatte Kuneke zur Sonntagsmesse abgeholt. Seither war er einmal im Monat gekommen, seit dem Frühjahr sogar
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