Die Herren vom Berge: Historischer Kriminalroman (German Edition)
getroffen auf dem Stuhl. Mit Vergnügen beobachtete Ludolf, wie sie sich nur langsam von der Überraschung erholte. Noch bevor sie wieder etwas sagen konnte, begann er mit seinem Bericht. Erst jetzt bemerkte Agnes das rote Halstuch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Sie schwieg eine ganze Weile und stimmte dann kleinlaut zu. Ja, sie mussten so schnell wie möglich nach Minden ins Heilig-Geist-Hospital. Nach einer kurzen Mahlzeit aus Brot und Schinken machten sie sich auf den anstrengenden Weg durch die Mittagshitze.
Nur langsam kamen sie Minden näher. Sie sahen die Mauer, die die ganze Stadt zum Schutz umgab. Einige Fachwerkhäuser lugten vorsichtig darüber, aber meist erkannte man nur die Dächer. Dagegen streckten die verschiedenen Kirchen ihre gemauerten Türme wie steinerne Finger weithin sichtbar zum Himmel hinauf. Dazwischen erkannte man auch einige andere Türme, ebenfalls aus dem gleichen gelblich-braunen Sandstein wie die Gotteshäuser. Das mussten die Speicher und Vorratslager der Händler sein. Wegen der immer wieder auftretenden Brände, die sich durch die Fachwerkbauten in den engen Gassen schnell unkontrolliert ausbreiteten, baute man sie lieber aus Stein.
Ludolf schätzte die Strecke zwischen der Burg und der Stadt auf wenigstens vier Meilen. Ihm graute jetzt schon vor dem Rückweg am Abend. Man hätte ein Pferd haben sollen. Nur – woher nehmen?
»Was überlegst du?«, fragte Agnes müde.
»Glaubst du immer noch, dass der Dudenhausen etwas mit der Sache zu tun hat? Dass er sie gezwungen hat, zur Engelmacherin zu gehen?«
Agnes dachte einen Moment nach. Ihre schöne Erklärung hatte sich inzwischen, nach der Auffinden von Kuneke, vermutlich als hinfällig erwiesen. Das war ihr in den letzten Tagen leider schon öfter passiert. Aber das musste andererseits noch lange nicht heißen, dass an der Sache gar nichts dran war. »Warum nicht? Erst dachte ich zwar, dass bei der Abtreibung etwas schiefgelaufen ist, Blutungen oder Entzündungen mit Fieber. Da kann immer noch der Plan gewesen sein, das Bankert 22 loszuwerden. Aber auf ihrem Weg nach Minden wurde sie wohl überfallen und so schwer verletzt, dass sie ins Hospital gebracht werden musste.«
»Warum hat der Händler nicht nach ihr gesucht?«
»Woher willst du wissen, dass er nicht nach ihr gesucht hat?«
»Na, wenn sie zu einer Engelmacherin gegangen wäre, hätte er sich wohl nach dem Verlauf der Dinge erkundigt. Und da er Kuneke nicht antreffen konnte, hätte er bei ihrer Mutter nachgefragt, wo sie abgeblieben ist. Aber Mechthild Fischer hat dir doch gesagt, dass sie ihn am Tag von Kunekes Verschwinden das letzte Mal gesehen hat.«
»Aber woher weißt du, wie der Kerl denkt? Vielleicht war er doch bei Mechthild. In der Nacht. Und keiner hat es gesehen. Und sie hat mich angelogen. Angenommen die beiden, ich meine Kuneke und ihr Verehrer aus Minden, waren sich wegen der Engelmacherin einig. Er hatte die Frau besorgt und den Zeitpunkt vereinbart. Aber plötzlich weigerte sich Kuneke. Sie wollte das Kind doch haben, sie wollte nicht zur Mörderin werden. Und sie weigerte sich heftig, sodass der Kerl wütend wurde und sie in wildem Zorn erschlug.«
»Das könnte passen. Aber es klingt mir nicht überzeugend genug. Warum wurde sie erschlagen, auf dem Heimweg von der Inklusin? Es war ihr üblicher Besuch wie an jedem Sonntag. Nach den Erzählungen deiner Tante und der Nachbarn also nichts Besonderes. Kuneke war nicht nach Minden unterwegs. Hätte sie sich gesträubt, wäre das Verbrechen in Minden geschehen und nicht genau der Burg gegenüber. Wo wir den Ort der Untat jedenfalls vermuten können.«
»Ja, ja«, winkte Agnes ab. »Du hast ja immer Einwände, wenn ich einen Vorschlag mache. Los, was denkst du? Damit ich deine Vermutungen auch einmal zerreden kann.«
Ludolf zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Sie hatte ja recht. Aber andererseits war Agnes nun einmal sehr schnell mit ihren Schlüssen, nach seinem Geschmack einfach zu schnell. Er dagegen wollte immer alles genau wissen, am besten mit Beweis. Konsequenz war: Er konnte sich nur schlecht auf eine Sache festlegen. Etwas kleinlaut gestand er ihr ein, dass er keinen besseren Vorschlag hatte.
Agnes lachte schallend. »Wenn wir beide so vorsichtig wie du sind, werden wir nie herausbekommen, wer Kuneke erschlagen wollte. Lernt man bei den Studien über die Natur, alles in Frage zu stellen und an allem, was so offensichtlich ist, zu zweifeln? Dann kann ich darauf verzichten.
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