Die Herrin von Rosecliffe
du davon? Wie könnte irgendjemand mich verstehen?«
»Ich verstehe, dass du beide Männer liebst«, erwiderte Tillo ruhig, verstummte jedoch, als Newlin sich ihnen näherte.
»Ja, sie liebt beide Männer«, bestätigte der verkrüppelte Barde. »Und beide haben ihr große Freude beschert.«
»Aber das ist jetzt vorbei«, warnte die alte Frau.
Newlin sah sie eindringlich an und griff nach ihrem Handgelenk. »Das ist eine Wahl, die ihr Herz treffen muss. Wenn jemand eine Liebe verschmäht, die ihm dargeboten wird, ist es nicht die Liebe, die den Schmerz verursacht sondern die falsche Entscheidung, Tilly!«
Isolde starrte Newlin verwirrt an. Seine Worte waren nicht an sie, sondern an Tillo - die er Tilly nannte gerichtet und hörten sich verdächtig nach einer Liebeserklärung an. Konnte es sein, dass der alterslose Seher ausgerechnet jetzt, da ein Krieg um den Besitz von Rosecliffe Castle auszubrechen drohte, dieser alten Frau, die sich als Mann verkleidete, seine Liebe gestand? Ein bittersüßes Lächeln huschte trotz ihrer Ängste über Isoldes Gesicht. Vielleicht würde wenigstens etwas Gutes aus diesem Zusammenprall zweier Welten entstehen ...
»Sei weise und mutig«, sagte sie zu Tillo. »Du kannst viel gewinnen, und die Zeit wird knapp.«
»Ich könnte dir denselben Rat geben, Mädchen«, murmelte Tillo, aber sie hörte sich nicht mehr so sarkastisch wie zuvor an, und als sie Newlin einen verstohlenen Seitenblick zuwarf, sah sie ziemlich verunsichert aus.
»Es wäre vernünftig von euch beiden, die gegenseitigen Ratschläge zu befolgen«, schmunzelte Newlin.
»Geh, mein Kind, und versuch, dort draußen Frieden zu stiften.«
Isolde betrachtete ihn lange, bevor sie sich zögernd zum Gehen wandte. Alles war so ungewiss. Glaubte Newlin wirklich, dass sie irgendetwas ausrichten könnte? Linus hielt ihr höflich die Tür auf. Sein gutmütiges Gesicht hatte einen sehr besorgten Ausdruck. Draußen stand Gandy auf der obersten Stufe, von Kopf bis Fuß in eine warme Decke gehüllt und beobachtete das hektische Treiben auf dem Hof. Isolde blieb neben ihm stehen und hielt Ausschau nach Rhys.
»Mir gefällt das gar nicht«, sagte der Zwerg.
Isolde lachte unglücklich auf. »Mir auch nicht! «
»Er kann nicht kämpfen. Nicht mit einer verletzten Hand und einem verletzten Arm. «
Isolde versteifte sich. Gandy hatte Recht: Rhys würde sein Schwert nicht mit voller Kraft schwingen können. Ein kleiner Teil von ihr schöpfte etwas Hoffnung. Vielleicht würde es doch nicht zur Schlacht kommen. Aber im Grunde wusste sie es besser. Rhys hatte sich ein Leben lang auf diesen Tag vorbereitet. Nichts würde ihn jetzt von der endgültigen Abrechnung abhalten können - weder Schmerzen noch ihre Liebe.
Aus unerfindlichen Gründen kam ihr plötzlich das berühmte walisische Wiegenlied in den Sinn:
Wenn Steine wachsen wie sonst nur Bäume,
Wenn der Mittag schwarz ist wie die Nacht,
Wenn Hitze die Kälte des Winters bezwingt,
Bricht der Tag an, an dem Cymru fällt.
Sie hüllte sich fester in ihren warmen Umhang. Die beiden ersten Prophezeiungen hatten sich schon erfüllt. Vor zwanzig Jahren hatte auf den Felshügeln eine Steinfestung zu wachsen begonnen. Und vor zehn Jahren war der Himmel gegen Mittag so dunkel geworden wie bei Nacht. Isolde konnte sich noch gut an die Panik der Menschen erinnern, die befürchtet hatten, das Ende der Welt wäre gekommen. Doch es war nur eine totale Sonnenfinsternis gewesen, und dieses Naturereignis hatte ihren Onkel Jasper vor dem sicheren Tod gerettet und zu Rhys' erster Niederlage geführt.
Was könnte die dritte Prophezeiung - Hitze mitten im Winter - zu bedeuten haben? Würde Gott den Schnee schmelzen lassen, so wie Er damals den Himmel verdunkelt hatte? Würde Er Rhys retten, so wie Er damals Jasper gerettet hatte? Doch wenn Rhys gerettet wurde, müsste ihr Onkel oder ihr Vater geopfert werden ... Isolde glaubte an die Weissagungen des alten Liedes, hatte aber keine Ahnung, wie man die dritte auslegen könnte.
Schuldbewusst ging sie die Stufen hinab. Wenn Rhys nicht in der Lage sein würde, sich im Kampf gegen ihre Verwandten zu verteidigen, so nur deshalb, weil er sie gegen Dafydd verteidigt hatte. Natürlich wollte sie ihre Familie beschützen -- aber sie wollte auch Rhys beschützen.
Allmächtiger, er durfte nicht verletzt werden oder sterben!
Isolde überquerte ungehindert den verschneiten Hof, doch an der steilen Steintreppe zum Wehrgang versperrte ein grimmiger
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