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Die Herzen aller Mädchen

Titel: Die Herzen aller Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Geier
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hundertstes Mal durchblätterte, genau hier im Zimmer, unter dem bösen Blick ihrer neuen Feindin. Vielleicht fand sie so die Übereinstimmung, die den Fall löste. Oder sie sonst weiterbrachte. Doch das passierte nicht. Zumindest nicht vor der Frühstückspause.
    Ab zehn Uhr ließ sie das Lesen und versuchte es mit freiem Nachdenken. Allerdings führten die aufdringlichen Fotos und Diagramme an Nessa Kaisers Wand sie immer wieder auf Abwege, um nicht zu sagen in Abgründe, ins Spintisieren über das Böse an sich und die unfassliche Starre der Schicksale. Das hübsche, zu junge Mädchen, der brutale geile alte Kerl, seine eifersüchtige Frau. Das war der Fall Lohmeier. Banal und doch letztlich ein Rätsel. Nie würde ein Außenstehender verstehen, was sich in den Köpfen und Körpern dieser scheinbar soliden Mitbürger abspielte. Wie konnte ein Mann sich in ein Kind verlieben? Es darum schänden? Und töten? Und wie brachte dann derselbe rücksichtslose Psychopath die Verzweiflung auf, sich selbst zu hängen? Was bewog seine Frau, ihn nach dem verräterischen Freitod noch zu decken, sein Bekenntnis zu vernichten und das Unrecht fortzusetzen, indem sie den Angehörigen des Opfers die Schuld zuschob? Bettina versank so sehr in der Betrachtung des Fotos der unseligen Elvira Mahler, dass sie zu spät merkte, wie ebendiese Frau, um Jahre älter als auf dem Bild, aber sehr rüstig und mit genau dem gleichen gezierten Lächeln auf den Lippen, den Raum betrat.
    Nun hatte Bettina über die Jahre mehrere Befragungen dieser Person protokollieren müssen und sich geschworen, ihr keine Sekunde mehr zu opfern. Sie erhob sich. Mahler deutete das prompt als höfliches Aufstehen und nickte Bettina zu. Nessa Kaiser, die ihrer Zeugin vorausging, schubste derweil den Kasten mit Beweismitteln direkt vor Bettinas Füße, zog einen breiten hölzernen Lehnstuhl an dessen Stelle und machte eine einladende Handbewegung. »Frau Mahler. Wie schön, dass Sie gekommen sind. Setzen Sie sich bitte.«
    Sie rückte ihr noch den Stuhl zurecht. Bettina wollte sofort raus. Doch in dem engen Durchgang richtete sich Mahler auf ihrem Platz ein, stellte ihre Füße hübsch gerade vor sich, packte ihre Handtasche auf die Spitze der Knie, die Henkel akkurat nach oben, und musterte Nessa Kaiser mit ihrem Katzenlächeln. »Ich hab mal die Rheinpfalz angerufen«, teilte sie ihr in gewohnheitsmäßig weinerlichem Ton mit. »Ich kenn da jemanden, der macht immer was mit mir, wenn sich was Neues ergibt.« Vielsagend blickte sie von Kaiser zu Bettina und wieder zurück. »Aus der Kulturredaktion.«
    Auf die Kultur war sie offensichtlich stolz. Bettina stieg über den Karton und zwängte sich rüde an der Witwe vorbei.
    »Passen Sie doch auf!« Ein böser Blick traf Bettina, Mahler tätschelte ihre festen grauen Wasserwellen und wandte sich zurück an Kaiser. »Der Herr Dr. –«
    Bettina wollte nicht hören, warum Mahlers Doktorfreund aus der Kulturredaktion der Rheinpfalz sie so mochte und warum er nicht schon längst für die Zeit oder die Süddeutsche schrieb, was er eigentlich müsste. Sicher hinderten ihn widrige Umstände, die nichts mit Talent zu tun hatten. Bettina versuchte, sich auch an Nessa Kaiser vorbeizudrängeln. Doch die stand breit im Weg und sagte: »Ihre Kooperationsbereitschaft wird man Ihnen vor Gericht zugute halten.«
    »… ein feiner Mann«, schloss Mahler und lächelte spitz. »Gericht?«, sagte sie dann und reckte ihren Kopf freudig nach oben. »Sagen Sie mir bitte, der Lohmeier ist überführt.« Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl. »Ich bin ja so erleichtert, junge Frau, ich bin ja so –«
    »Frau Elvira Mahler, ich verhafte Sie wegen Mordes an Sylvia Lohmeyer«, sagte Nessa Kaiser in einem Ton, der nicht mehr erlaubte, dass man sie einfach übertönte.
    Augenblicklich senkte sich tiefes Schweigen über den Raum. Mahlers Po schwebte zehn Zentimeter über der Sitzfläche des Stuhls, sie war erstarrt in einer Haltung, die eine normale Frau ihres Alters keine zwei Sekunden ausgehalten hätte. Bettina merkte, dass sie zurückgestolpert war und sich gegen den Rollschrank presste. Sie wagte kaum zu atmen.
    »Sie«, sagte Nessa Kaisers Stimme klar und hart neben ihr, »haben für die Tatzeit nie ein befriedigendes Alibi bringen können. Sie haben Sylvia Lohmeier aus Eifersucht erdrosselt. Ihr Ehemann hatte eine Affäre mit dem Mädchen. Es gibt in Sylvias Tagebuch eine kurze Notiz darüber, dass Sie vermutlich Verdacht geschöpft hatten. Das

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