Die Herzen aller Mädchen
Bettina.
»Okay.« Jaecklein riss sich zusammen. »Dann nehmen Sie erst mal Platz, Frau Kollegin. Sie können gleich hierbleiben. Volker Jaecklein, Kriminalkommissar vom BKA Wiesbaden.« Er streckte ihr die Hand hin. Bettina schritt mit schwingendem Rocksaum hin und reichte ihm die ihre. Wieder wurde er rot, doch nur noch ein bisschen. Er war in ihrem Alter, sein Gesicht jungenhaft und sommersprossig, die Haare schon licht und etwas zu streng geschnitten für seinen Typ, und insgesamt sah er aus, als sei er von Herzen gutmütig und versuche das erfolglos zu verbergen. »Sie waren gestern Abend hier, nicht wahr?«, fragte er und wies auf einen Stuhl.
Bettina setzte sich. »Ja, genau.«
»Gut, Frau Boll, dann machen wir doch gleich mal die Routinefragen.« Er sah sie an und räusperte sich. »Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen gestern Abend, eine Person, eine Begebenheit, ein Gegenstand?« Er lächelte entschuldigend. »Und sei es nur eine Kleinigkeit?«
Eine Viertelstunde später wusste Bettina genau, was geschehen war. Dr. Ritter hatte nach einem letzten Umtrunk mit seinen Übernachtungsgästen den Ovid-Kodex zum Safe gebracht, sich dort aber entschlossen, ihn nicht zu sichern, sondern mit in sein Zimmer zu nehmen. Seiner Aussage zufolge hatte das niemand beobachtet, weil seine Wachmänner ihn nur bis zum Bibliothekstrakt begleitet hatten. Hineingegangen war er allein, das bezeugten die Bänder der Überwachungskamera. Drinnen am Safe hatte er das Buch noch einmal durchgeblättert, es spontan unter sein Jackett geschoben und war dann sofort gegangen. Das war um halb eins gewesen. Zu dieser Zeit befanden sich noch 26 Personen im Haus: die Ritters, Bianca Marny, eine weitere Hausangestellte, achtzehn Gäste und vier Wachmänner der Firma Herakles. Letztere wurden überdurchschnittlich bezahlt, arbeiteten seit Jahren für Ritter und waren so gut beleumundet, wie man in ihrer Branche überhaupt sein konnte. Bei den Gästen handelte es sich um Prominenz aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, die Hausangestellte gehörte seit dreißig Jahren praktisch zur Familie, und für Frau Marny hatte Dr. Ritter persönlich seine Hand ins Feuer gelegt. Verdächtig war also niemand und jeder.
Dr. Ritter hatte das Buch mit ins Zimmer genommen, im Bett noch bis etwa zwei Uhr darin gelesen und es dann kurz vorm Einschlafen auf den Nachttisch gelegt. Gänzlich unbewacht war der Kodex freilich auch danach nicht gewesen, denn im Anschluss an die Party hatten die Wachleute das Gebäude samt umgebendem Gelände regelmäßig in Zweierschichten kontrolliert. Nachts sollten sie hauptsächlich das Haus und die Fahrzeuge der Gäste schützen. Sie hatten jedoch nichts Verdächtiges bemerkt und ab sechs Uhr die Putzfrauen und den Catering-Service fürs Frühstück eingelassen. Eine halbe Stunde später war Dr. Ritter bereits aufgewacht. Er hatte den Diebstahl sofort bemerkt und Alarm geschlagen. Niemandem war danach noch erlaubt worden, das Anwesen zu verlassen. Daher bestand eine gute Chance, die Beute auf dem Gelände zu finden. Es wurde fieberhaft gesucht, mit Riesenpolizeiaufgebot, ein Beamter pro Zimmer und ein Dutzend für Nebengebäude und Baustelle. Allerdings ließ der Erfolg auf sich warten.
»Das Sicherheitskonzept hat einfach zu viele Lücken«, vertraute Jaecklein Bettina an.
»Dr. Ritter«, sagte die und nippte an dem Kaffee, den Jaecklein ihr besorgt hatte.
»Ja«, seufzte der, »drei Sicherheitsschranken in der Bibliothek und der beste Safe, den man für Geld kriegen kann, aber er legt das blöde Buch nicht rein.«
»Da wird er Schwierigkeiten mit seiner Versicherung kriegen«, sagte Bettina und dachte an Gregors Theorie. Das war natürlich auch eine Lösung: Ohne Versicherungsschutz kein Versicherungsbetrug. Es hatte sogar eine gewisse Eleganz. »Lassen Sie denn auch in der Bibliothek suchen?«
Jaecklein schüttelte den Kopf. »Buch unter Büchern, ich weiß, das wäre das beste Versteck. Aber das machen wir erst, wenn sonst nichts fruchtet. Dr. Ritter war der Letzte, der diese Räume betreten hat. Das zeigen die Videobänder.«
»Aber sie zeigen nicht, wie er das Buch in seine Jacke steckt und wieder mit rausnimmt.«
»Nein«, sagte Jaecklein; und Bettina fragte sich, was er dachte. Jetzt tippte er mit dem Zeigefinger auf eins der Blätter, die vor ihm lagen. »Doch wir haben eine Zeugin, die das Buch nach halb eins noch gesehen hat.«
»Und zwar nicht seine Frau«, prognostizierte Bettina.
Jaecklein
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