Die Hexe und der Herzog
diese bittere Erfahrung machst.«
Warum kam ihr das alles ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn, auf diesem zugigen, eiskalten Burghof?
»Wenn du deine schlauen Beobachtungen schon unbedingt jemandem mitteilen willst«, sagte Niklas in ihre Überlegungen hinein, »warum wendest du dich dann nicht an diesen Juristen, der sich seit Neuestem überall wichtig macht? Ein Schwabe aus Wendlingen, habe ich läuten hören. Merwais oder so ähnlich lautet sein Name. Ja, genau: Johannes Merwais. Und ganz schnell nach oben will er offenbar auch. Warum sonst hockt er schon beim ersten Hahnenschrei in seinem Kontor?«
Heute brachte ihr der Besuch an Johannas Grab nicht den gewohnten Trost, obwohl sie die einzige Besucherin auf dem Friedhof vor der Klosterkirche war, deren Turm hoch in den bleiern verhangenen Himmel ragte. Vor ihr die Gräber mit den stattlichen Steinmetzarbeiten, die sich nur die Reichen leisten konnten; rechts und links die einfachen Holzkreuze der Ärmeren, die hier zur ewigen Ruhe gebettet worden waren.
Der Tod macht uns alle gleich, dachte Els. Und all das, woran wir einst so gehangen haben, wird in seiner Gegenwart zu flüchtigem Staub.
Im Heimatdorf Wilten, aus dem die Familie ursprünglich stammte, ruhte Johanna neben ihrem geliebten Georg, der ihr nur wenige Jahre vorausgegangen war. Die beiden Namen auf dem Holz waren bereits von Regen und Schnee verwittert und kaum noch lesbar, und dennoch kam es Els vor, als sei alles erst gestern geschehen.
»Warum hast du uns so bald verlassen?«, murmelte sie und brachte es nicht über sich, die klammen Hände zum Gebet zu falten. »Wo wir dich doch gerade jetzt so sehr gebraucht hätten, Lena und ich! Nicht einmal mein Elfenkind hast du ein einziges Mal im Arm halten können.«
Ihre Tränen flossen zum ersten Mal seit langer Zeit. Damals, als alles zu Ende schien, hatte Els ihren ganzen Vorrat leer geweint, zumindest war es ihr in jenen dunklen Tagen so erschienen. Doch sie hatte sich offenbar getäuscht.
Wie in so vielem anderen auch.
»Ich weiß einfach nicht mehr weiter, Johanna. Lena hat es geschafft, mich zu überlisten, damit sie am Hof arbeiten kann, ausgerechnet am Hof, das musst du dir einmal vorstellen! Jetzt ist sie dort in der Küche und damit all den ungesunden Schwaden dieses Sündenpfuhls ausgesetzt. Ich hab sie nicht einmal zur Rede gestellt, was in aller Welt sie dort zu suchen hat, denn das hätte sie nur noch bockiger gemacht. Jetzt reden wir gerade das Allernötigste miteinander, beinahe, als ob wir Fremde wären. Das Herz zerreißt es mir schier, wenn ich sie Morgen für Morgen in der ersten Dämmerung zur Hofburg aufbrechen sehe.«
Es war so kalt, dass Els zu zittern begann, obwohl sie sich in Laurins alten Lodenumhang gewickelt hatte, der auch die zornigsten Windstöße abhalten konnte. Seit damals hat sie sich nicht mehr so mutlos und verlassen gefühlt, ein dumpfes, hässlich ziehendes Gefühl, das sie zu überfluten drohte. Verzweifelt versuchte sie, sich dagegen zu wehren.
Ich muss weiter, dachte sie. Einfach losgehen. Egal, wohin. Wenn ich länger bewegungslos hier herumstehe, werde ich noch krank.
Auf dem Nachbargrab, auf dem ein bescheidenes Talglicht flackerte, hatten sich trotz der unwirtlichen Witterung zwei Spatzen niedergelassen, die im Schnee nach Futter pickten, und gerade als sie sich abwenden wollte, um den Heimweg anzutreten, kam ein dritter hinzugeflogen.
Plötzlich glaubte sie zu begreifen.
Els drückte ihre Lippen auf das splittrige Holz. »Ich hab verstanden, Johanna«, sagte sie leise. »Ich danke dir.«
Sie ließ das Dorf hinter sich, so schnell sie konnte, um der Kälte zu trotzen, die seit Wochen alles im Bann hielt, obwohl der Winter seinen Zenit bereits überschritten hatte. Die Sill, die sie damals in ihrem tiefsten Kummer verschmäht hatte, war nicht zugefroren, dafür floss sie zu schnell, aber die kahlen Bäume entlang des Flusslaufes trugen ein dickes Schneekleid, und auch der Pfad unter Els’ Füßen war eisig. Kein Laut war zu hören, keine Menschenstimme, kein Vogelruf. Mutterseelenallein war sie in dieser stillen Welt aus Eis und Schnee.
Ganz anders als beim letzten Mal, da sie zu sechst in der Dämmerung hierhergekommen waren! Els vermisste die Wärme der anderen Frauen, ihre Gespräche, ihr Lachen. Ihre Gegenwart. Dennoch zog es sie jetzt mit aller Macht zu den Drei Ewigen, und sie wusste, nur dieser schmale, gefährliche Steig führte zu ihnen.
Da kam sie endlich in Sicht, jene
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