Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
das Reichskammergericht.«
»… das ein Hort der Gerechtigkeit ist«, lächelte Marx, ohne die Straße aus dem Auge zu lassen. »Wenngleich man sagt, dass Justitia sich ebenfalls gern als Hure betätigt. Nein, Julius, ich will dich nicht ärgern. Geh nach Speyer, Sophie. Mach dich aber darauf gefasst, dass du Geduld brauchst. Beim Gericht sitzen Beamte, die sich wie Raupen durch Berge von Akten beißen, die leider trotzdem immer höher werden, jetzt, wo Krieg ist. Sie kauen und verdauen und würgen hoch und schlucken wieder runter – und die Zeit verrinnt. Habe ich recht, Julius?«
»Gründlichkeit bringt mehr als Eile.«
Sophie presste die Hände vor die müden Augen. »Was nutzt mir ein Urteil, wenn mein Kind tot ist?«
»Ich könnte dafür sorgen, dass die Klage bevorzugt behandelt wird.«
»Selbst wenn sie morgen vor den Richtertisch käme – wie würde das Urteil wohl lauten, wenn eine davongelaufene Ehefrau gegen den ehrenwerten Freiherrn von Palandt klagt?«, wandte Marx ein.
»Sophie würde nicht gegen ihren Ehegatten klagen – zumindest würde ich ihr davon abraten –, sondern gegen die Amme ihrer Tochter, die im Ruf steht, eine Hexe zu sein.«
Marx lachte auf. »Eine Hexe? Was zum Teufel passiert da denn gerade? Du musst wissen, Sophie, unser aufrechter Julius ist im Herzen ein Rebell wider die Kirche und die Justiz – zumindest in den Bereichen, in denen ihre Vertreter sich mit dem Höllenfürsten anlegen. Er liest Traktate mit Namen wie: Christliche Bedenken wider das Wirken der Zauberei . Doch, Julius, ich hab das Zeug in Heinrichs Zimmer liegen sehen. Von wem, wenn nicht von dir, hätte er es haben sollen?«
»Bildung ist mehr als das Nachplappern gängiger Meinungen«, meinte Julius steif. »Eine umfassende Betrachtung der Hexenprozesse kann niemandem schaden – und führt tatsächlich zu beunruhigenden Beobachtungen, was die wirklichen und angeblichen Geständnisse der Hexen …«
»Hast du es selbst geschrieben?«
»Habe ich nicht . Aber ich muss zugeben …«
»Versteh ich das richtig? Der Saukerl hält es mit den Hexen?«, fragte der Rotschopf alarmiert.
»Der Saukerl hält es mit der Unschuld«, fuhr Julius ihn an. »Und außerdem habe ich gar nicht vor, als Sophies Advokat zu agieren. Ich würde ihr einen fähigen Kollegen empfehlen.«
»Hexer sind die Spione des Feindes im Lager der himmlischen Heerscharen. An die Wand nageln, sag ich, wo immer man sie packen kann!«, rief der Rote.
Einen Moment herrschte ungemütliches Schweigen. Dann ließ sich Jost vernehmen, ein Mann mit einer Glatze, der am Tisch saß und mit einem Messer eine Warze aus dem Finger schälte. »Als wir vor Wolgast kämpften, hatten wir eine Hexe bei uns im Tross«, erklärte er bedächtig. »Sie hat mit uns schöngetan, Herrgott, wir standen Schlange um einen Kuss von ihren Butterlippen. Aber als die Schlacht begann, hat sie eine Kugel der feindlichen Artillerie umgelenkt, so dass sie in unser spanisches Karree traf. Ein Vierundzwanzigpfünder. Keine Aussicht auf Entkommen. Die’s überlebten, haben sie vor dem blutroten Himmel stehen sehen, mit ausgestreckten Armen, wo sie ein höllisches Gelächter ausstieß.«
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, fragte der Rotschopf interessiert.
Der Erzähler zuckte mit den Schultern.
»Wendet Euch an die Justiz«, bat Julius Sophie eindringlich, ohne die Kerle weiter zu beachten. »Es ist der einzig vernünftige Weg.«
Sie blickte zu Marx. Wärst du wirklich zu allem bereit? Was hatte er gemeint, als er sie das fragte? Hatte überhaupt irgendeine Art Versprechen in den Worten gelegen?
Sie warteten, bis die Dunkelheit einbrach, dann verließen sie das Hurenhaus wieder. Julius jetzt ohne Fesseln, die Marx ihm mit einer spöttischen Bemerkung über Ketten aus Seidenbändern erlassen hatte. Sophie merkte bald, dass das Räuberleben nicht bunt und aufregend war, sondern vor allen Dingen strapaziös. Tagsüber verkrochen sie sich in den unterschiedlichsten Schlupfwinkeln: in einer Mühle, die von einer marodierenden Söldnertruppe niedergebrannt worden war, in Schluchten und verdreckten Tierhöhlen. Nachts schlugen sie sich durch die Wälder. Sie flüchteten aus der Steinfelder Enklave gen Westen nach Reifferscheidt, so viel bekam Sophie mit.
Die Männer taten entspannt, aber sie merkte, dass sie fortwährend ihre Umgebung musterten, und auch sie selbst und Julius ließ man nicht einen Moment aus den Augen. Besonders der Hauslehrer mit seinen abfälligen
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