Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Bemerkungen war der Bande ein Dorn im Auge. Die Kerle verstanden nicht, warum man ihn mit sich schleppte, und es ärgerte sie. Einer von ihnen sprach Marx darauf an. Sophie konnte die Antwort nicht verstehen, aber sie war grob, und danach muckte niemand mehr auf.
Julius beschwor sie unterdessen wieder und wieder, sich von den Verbrechern zu trennen. Sie wollte nicht. Marx war ihre Hoffnung. »Und wie, bitte schön, könnte er Euch helfen?«, fragte Julius. Sie wusste es nicht. Aber sie baute darauf, dass er einen Plan hatte. War nicht alles, was er tat, zielgerichtet? Würden seine Männer ihm überhaupt folgen, wenn er ein Blender wäre, wie Julius behauptete? Sie beobachtete ihn, wie er mit Jost scherzte, wie er seine Leute anfuhr oder sie ermunterte – manchmal scharf, dann wieder mit trügerischer Sanftheit, gelegentlich boshaft. Doch gleich, was er tat oder sagte: Die Männer vertrauten ihm. Und das sollte sie ebenfalls tun. Er musste ihr und Henriette helfen.
Ab und zu, besonders nachts, hatte sie die Wiege ihrer Tochter vor Augen, über die Edith sich wie ein Schatten beugte. Dann rauschte ihr vor Angst das Blut in den Ohren. Sie argwöhnte, dass die Tage der Kleinen voller Angst und Schmerzen waren, und in diesen Stunden wäre sie am liebsten auf der Stelle zur Burg aufgebrochen, um Henriette an sich zu reißen. Aber man würde ihr das Mädchen sofort wieder aus den Armen nehmen, und dann wäre alles vorbei.
Mindestens ebenso wie die Vorstellung von Henriettes Leid bedrückte es sie, dass sie es nicht schaffte, sich das Gesicht ihrer Tochter vorzustellen. Die Kleine hatte schwarze Haare gehabt, nicht wahr? Mit Löckchen im Nacken? Hatten sich beim Lächeln Grübchen gezeigt? Besaß sie Augenbrauen? Spitze oder runde Ohren? Je verkrampfter Sophie darüber grübelte, umso unsicherer wurde sie. Sie hatte mehrere Wochen mit ihrer Tochter zusammengelebt, ohne sie auch nur ein einziges Mal richtig anzusehen. Ich muss mich selbst am meisten hassen, dachte sie. Ich war die Erste, die sich an ihr vergangen hat.
Vier Tage nach der Flucht aus dem Bergwerk trafen sie auf die restlichen Bandenmitglieder. Die Männer erwarteten sie an einem verlassenen Steinbruch. Sie hatten Pferde dabei, auch den Schimmel, der seinen Herrn mit einem zärtlichen Nasenstüber begrüßte. Auf welche unnatürliche und gottlose Weise sich die Männer miteinander verständigt und einen Treffpunkt abgesprochen hatten, wollte Sophie gar nicht wissen.
An diesem Abend saßen sie um ein winziges Feuer, das Jost in einer Erdkuhle entzündet hatte. Es war zum ersten Mal wirklich kalt, und sie drängten sich um die Glut, so wenig Wärme sie auch ausstrahlte. Elend vor Unruhe, blickte Sophie zu Marx hinüber. Er benutzte seine Klaue, um eine Waffe zu reinigen, was ihm erstaunlich gut gelang, aber natürlich war er nicht mehr so geschickt wie mit zwei gesunden Händen. Wie er Marsilius hassen muss!, dachte sie. Und dann: Ich sollte auf mein Kind achtgeben, wenn ich es zurückbekomme. Henriette war ja auch die Tochter des Mannes, der Marx verstümmelt hatte, und wer konnte schon wissen, wie es im Herzen des Verbrechers wirklich aussah?
»Was ist?«, sprach er sie in diesem Moment an. Ihm schien nichts zu entgehen, das war eine seiner unheimlichen Eigenschaften.
»Die Zeit verrinnt. Ich sorge mich um mein Kind.«
»Ihr erwartet zu viel, Sophie«, meinte Julius und pustete ein Ascheflöckchen von seinem Ärmel. »Grade jetzt braucht Marx allen Verstand, um am Leben zu bleiben. Erstaunlich, dass er Euch nicht einfach davonjagt.«
Marx ließ den Einwand unkommentiert. Weil Julius die Wahrheit sagte? Sie starrte ins Feuer, in dem ein blauer Kern in gelber Flamme leuchtete. »Ich weiß, wo das Papier sein könnte, das Ihr sucht«, sagte sie leise.
Sie hatte gehofft, dass Marx aufmerken würde. Schließlich ging es um den Pakt, den er mit dem Teufel geschlossen hatte – um seine unsterbliche Seele. Aber mit seinem heftigen Aufschrei hatte sie nicht gerechnet. Alle starrten sie plötzlich an, auch Julius. Sophie holte Luft. Dann gab sie vorsichtig wieder, was sie von Dirk Wolpmann erfahren hatte: »Ich weiß, dass Ihr einen Pakt mit dem Bösen geschlossen habt, Marx, und nun müsst Ihr das Papier zurückerlangen, auf dem er niedergeschrieben wurde. Aber das ist mir egal. Ich will nur, dass Ihr mit der Urkunde auch mein Kind holt.«
Einen Moment starrte Marx sie an. Dann lachte er auf. »Niedergeschrieben mit meinem Blut, wie ich vermute, auf der
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