Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
sicher.«
»Eine Frau«, wiederholte Marx, und Sophie wusste, woran er dachte. »War sie schön?«
Hayo leckte über die Lippe. »Konnte ich nicht sehen, Hauptmann. Sie war zu weit entfernt und halb von Baumstämmen verdeckt, und ich hab ja nicht gedacht …«
»Die Farbe ihres Haars?«
»Sie trug ’ne Haube.«
»Es war Edith«, sagte Sophie. Die Morgenkälte, die sie frösteln ließ, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus.
» Oder … irgendein armes Weib – und das Feuer hier ist doch aus Unachtsamkeit entstanden«, beharrte Julius.
Marx hob nasse Blätter vom Boden auf und hielt sie Julius wortlos unter Nase. Er wartete kurz, dann warf er sie fort. »Wir werden uns trennen. Jost, du weißt, wohin du die Männer zu führen hast.«
»Was heißt das – wir werden uns trennen?«, fuhr Julius auf.
Marx ließ sich Zeit mit der Erklärung. Er zog seinen Mantel über, schnallte das Bandalier fest und knüpfte die Knoten der Stiefel neu. Dann erklärte er, dass er mit Sophie zur Wildenburg reiten werde. O Jungfrau, barmherzige, endlich! Sophie, die so lange auf diesen Satz gewartet hatte, erschauerte vor Glück. Henriettes Haar war schwarz gewesen und glatt, ohne Löckchen, sie war sich dessen plötzlich ganz sicher. Aufgeregt kletterte sie in den Sattel ihres Pferdes.
Julius griff ihr in die Zügel. »Herrgott, Marx – in die Höhle des Löwen! Besitzt du keinen Funken Anstand? Hat sie noch nicht genug gelitten? Was setzt du ihr den Floh ins Ohr, dass sie mit … mit einem Husarenstück …?«
»Sie will’s doch, oder?«
»Sie ist verstört. Sie braucht …«
»Ja, was denn? Da bin ich weniger klug als du. Wie wäre es, wenn du sie einfach einmal selbst entscheiden lässt?«
»Sophie!« Julius umklammerte immer noch die Zügel. »Tut es nicht. Geht nicht mit ihm. Dieser Kerl ist gewissenlos, und Euer Ehemann …«
Sie schüttelte um Verzeihung bittend den Kopf.
»Dann werde ich mitkommen.«
»Das fehlte noch!« Marx hatte ebenfalls sein Pferd bestiegen. So entschieden wie immer, wenn er einen Entschluss gefasst hatte, trieb er es an.
»Und was machen wir mit dem Paragraphenfresser?«, wollte der Rotschopf wissen.
»Passt mir auf ihn auf. Und zwar gut! Unser Freund ist listig, wenn’s drauf ankommt!«
u Sophies Überraschung zeigte sich, dass ihr Lager nur wenige Meilen von der Wildenburg entfernt gelegen hatte. Wieder einmal wurde ihr bewusst, dass sie in ihrem neuen Heim wie in einem Gefängnis gelebt hatte – sie kannte sich überhaupt nicht in der Gegend aus. Nachdem sie eine Zeitlang bergauf geritten waren und eine schmale Wiese überquert hatten, bogen sie in ein Waldstück ein, und da lag die Wildenburg, nur durch eine schmale Schlucht getrennt, plötzlich vor ihnen: rechts der Hexenturm, auf der linken Seite, mit ihm durch die Wehrmauer verbunden, der Wohnturm. Die Gebäude waren so nah, dass Sophie hinter den Fenstern die Silhouetten der Menschen erkennen konnte, die ihrer Arbeit nachgingen. Sie starrte lange auf ihr altes Heim und murmelte dann entmutigt: »Niemals.«
Marx drehte sich im Sattel zu ihr um. »Niemals wirst du dem Kerl vergeben? Niemals wirst du auf dein Kind verzichten? Niemals wirst du irgendetwas wagen, bevor du eine anständige Mahlzeit im Magen hast? Letzteres könnte ich gutheißen.«
»Wir kommen niemals hinein – das meine ich. Ihr habt es selbst gesagt: Der Weg in das Verließ ist nun doppelt gesichert. Und die Wächter …« Nicht einmal Dirk, der wie ein Hund darunter litt, auf welche Art er seine Familie verloren hatte, wagte es, etwas gegen seinen Herrn zu unternehmen. Sophie fühlte die Euphorie, die sie die vergangenen Stunden erfüllt hatte, aus sich herausrinnen wie Wasser aus einem löchrigen Schlauch. Plötzlich sah jeder Quaderstein in der gegenüberliegenden Mauer aus, als wöge er eine Tonne.
»Wer sagt denn, dass wir das wollen?«
»Bitte?«
»Ich hab nicht vor, die Burg zu betreten.«
»Aber …«
»Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen.« Den Rest des Tages gab Marx sich rätselhaft, und in Sophies Augen hieß das: anstrengend. Sie konnte ihm kein einziges Wort über seine Pläne entlocken. In einer Erdhöhle, die sie in der Nähe fanden, hob er eine Grube aus, entzündete ein Feuer und legte sich, unempfindlich gegen die Kälte, schlafen. Nach dem Erwachen erkundete er die Umgebung. Er brachte trockenes Holz mit, entfachte das Feuer von neuem und begann mit Hilfe einer Kugelzange Munition für seine Pistolen zu
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