Die historischen Romane
als es noch möglich gewesen wäre, in dieses Gewirr von Gängen und Höhlen einzudringen, aus Furcht, nicht wieder hinauszufinden und sich in einem verminten Gelände zu verirren.
In Wirklichkeit waren es nur wenige, die Genaueres darüber wussten, und die meisten von ihnen waren Angehörige der Unterwelt (hier im doppelten Sinne), die sich dieser Labyrinthe bedienten, um Waren an den Zollstationen vorbeizuschmuggeln und sich vor den Razzien der Polizei zu retten. Meine Aufgabe bestand nun darin, so viele Gauner und Schmuggler wie möglich zu befragen, um mich in diesen Gängen zurechtzufinden.
Ich erinnere mich, dass ich, als ich den Empfang des Befehls bestätigte, mich nicht enthalten konnte zu schreiben: »Hat denn die Armee keine detaillierten Karten?« Worauf Lagrange mir antwortete: »Stellen Sie keine idiotischen Fragen. Zu Beginn des Krieges war unser Generalstab so siegesgewiss, dass er nur Karten von Deutschland ausgab und keine von Frankreich.«
In Zeiten, in denen gutes Essen und guter Wein knapp waren, war es leicht, alte Bekannte in irgendeinem tapis franc aufzutreiben und in ein besseres Speiselokal mitzunehmen, wo ich ihnen ein Hähnchen und Wein der besten Qualität vorsetzte. Und dann redeten sie nicht nur, sondern nahmen mich auch zu faszinierenden Ausflügen in den Pariser Untergrund mit. Es geht da unten nur darum, gute Lampen zu haben und sich zwecks späterer Orientierung eine Reihe von Zeichen aller Art zu notieren, die sich an den Wänden der unterirdischen Gänge finden, zum Beispiel die Skizze einer Guillotine, ein altes Ladenschild, ein mit Kohle gekritzeltes Teufelchen, ein Name, vielleicht hinterlassen von einem, der nicht mehr hinausgefunden hat. Und man darf sich nicht fürchten, wenn der Weg durch die Katakomben führt, denn folgt man der richtigen Reihe von Schädeln, gelangt man zu einer kleinen Leiter, die in den Keller eines willfährigen Lokals führt, von dem aus man ins Freie treten und die Sterne wiedersehen kann.
Einige dieser Orte kann man inzwischen besichtigen, aber andere waren bis dahin nur meinen Informanten bekannt.
Kurzum, zwischen Ende März und Ende Mai hatte ich mir eine gewisse Kompetenz erworben und schickte Lagrange diverse Skizzen, um ihm mögliche Durchgänge anzuzeigen. Dann machte ich mir klar, dass meine Nachrichten nicht mehr viel nützten, denn die Regierungstruppen drangen inzwischen oberirdisch in Paris ein. Versailles verfügte jetzt über fünf Armeekorps mit ebenso gut trainierten wie indoktrinierten Soldaten und mit einer einzigen Idee im Kopf, wie man bald erfahren sollte: Es werden keine Gefangenen gemacht, jeder gefangene Kommunarde muss ein toter Mann sein. Man hatte sogar dafür gesorgt, und ich sollte es mit eigenen Augen sehen, dass jedesmal, wenn eine Gruppe Gefangener die Zahl zehn überstieg, das Exekutionskommando durch eine Mitrailleuse ersetzt wurde. Und den regulären Soldaten waren sogenannte brassardiers beigesellt worden, Zuchthäusler oder noch üblere Subjekte, die Armbinden in den Farben der Trikolore trugen und noch brutaler als die regulären Truppen waren.
Am Sonntag, den 21. Mai, um zwei Uhr nachmittags lauschten achttausend festlich gestimmte Menschen im Tuilerien-Park einem Wohltätigkeitskonzert zugunsten der Witwen und Waisen der gefallenen Nationalgardisten, und noch wusste niemand, dass die Zahl der Ärmsten, die es zu unterstützen galt, binnen kurzem erschreckend ansteigen sollte. Denn (wie man später erfuhr) am selben Nachmittag gegen halb fünf, während das Konzert noch lief, drangen die Regierungstruppen durch die Porte de Saint-Cloud nach Paris ein, besetzten Auteuil und Passy und erschossen alle Nationalgardisten, die sie zu fassen bekamen. Später hieß es, um sieben Uhr abends seien mindestens zwanzigtausend Versailler in der Stadt gewesen, aber von den Spitzen der Kommune war weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Was zeigt: Wenn man eine Revolution machen will, muss man eine gute militärische Erziehung haben, aber wenn man die hat, macht man keine Revolution, sondern steht auf seiten der Macht, und darum sehe ich keinen Grund (ich meine, keinen vernünftigen Grund), eine Revolution zu machen.
Am Montagmorgen brachten die Versailler ihre Kanonen am Arc de Triomphe in Stellung, und jemand hatte den Kommunarden die Order erteilt, eine koordinierte Verteidigung aufzugeben und sich dezentral zu verbarrikadieren, jeder in seinem Viertel. Wenn das wahr ist, hatte die Dummheit ihrer
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