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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Mensch gewesen sein, mit Augen, Händen und Stimme. Dass du nur die Augen und die Hände erkannt hast, mag an der Dunkelheit gelegen haben. Vielleicht trug der Fremde auch schwarze Kleidung. Sag, hast du weitere Personen bemerkt oder besser: weitere Augen und Hände?«
    »Nein.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Nun gut. Wenn ich dich richtig verstanden habe, war die Begegnung zunächst angenehm, aber irgendwann später änderte sich das. Du spürtest eine Leere, hattest Angst und bist, wie du sagtest, über Stock und Stein fortgelaufen. Ich frage mich, was zwischen dem angenehmen Gefühl und dem Gefühl der Leere geschah.«
    »Ich … ich weiß nicht. Mir ist, als hätt ich kein Gedächtnis dazwischen.« »Hm. Und dann bist du zum Wagen gelaufen?«
    »Ja.«
    »Wie sah der Weg aus, den du gelaufen bist?«
    »Ich weiß nicht. Bin bergab gelaufen. Immer bergab.« »Aha. Fehlte irgendetwas auf dem Wagen?«
    »Nein.«
    »Schön. Demzufolge wurde nichts gestohlen. Was geschah dann?«
    »Nichts. Hab Kräuter verkauft wie immer. Zwei, drei Ta-
    ge lang. Dann ist der Büttel gekommen und hat gesagt, ich
    wär ne Hexe, und ab gings in den Kerker. Knall und Fall.« »War das Krabiehl?«
    »Ja …« Abermals wandte sie den Kopf von ihm fort.
    Er verstand. Sie war schwach, erschöpft, voller Schmerzen. Sie wollte nicht länger mit ihm reden. »Ich lasse dich jetzt in Frieden und kümmere mich um die Brühe. Nur noch eine Frage: Hattest du keine körperlichen Gebrechen nach der Begegnung? Ich meine, äh … du weißt schon.« Sie hatte ihm zwar gesagt, sie wüsste nicht, ob sie mit einem Mann aus Kirchrode Verkehr gehabt hatte, aber es konnte nicht schaden, nochmals zu fragen.
    »Nein. Ja … ich hatt so einen Geschmack im Mund. Eklig war der. Bin ihn kaum losgeworden.«
    »Einen Geschmack, sagst du?« Lapidius spürte Erregung. Das Bilsenkraut! Man konnte es Freyja eingeflößt haben, genau wie Gunda Löbesam. Wenn das stimmte, war es möglich, dass Freyja sich in einer ähnlich gefährlichen Situation befunden hatte wie die Korbmacherin. Er beugte sich vor und drehte ihren Kopf zu sich, damit er ihr in die Augen sehen konnte. »Sag, war das der Geschmack von Bilsenkraut?«
    »Ich weiß nicht.« Sie wollte das Gesicht wieder fortdrehen, aber er ließ es nicht zu.
    »Das musst du doch wissen! Als Kräuterhändlerin.«
    »Nein. Ich weiß nur, wies aussieht. Habs nie probiert, bin nicht lebensmüde.«
    »Nun ja, schon gut. Entschuldige.« Er ließ sie los und richtete sich auf. »Ich besorge jetzt die Brühe mit der Weidenrinde.« Eine Stunde danach waren Freyj as Schmerzen halbwegs abgeklungen. Marthe hatte die Quecksilberschmiere am ganzen Körper überprüft und Kalkpulver auf die Lippen gegeben. Es ging der Patientin besser, und bald darauf schlief sie fest.
    Lapidius war froh, dass Freyja auf diese Weise für ein paar Stunden die Krankheit vergessen konnte, denn er wusste: Das Maß ihres Leidens war noch lange nicht voll. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Er schickte Marthe zu Bett und machte die abendliche Runde durch sein Haus, prüfte Schlösser, schob Riegel vor und vergewisserte sich, dass alle Fenster geschlossen waren. Seit dem Mord an Gunda Löbesam war etwas eingetreten, das er vorher niemals verspürt hatte: ein Gefühl der Unsicherheit in den eigenen vier Wänden. Er tat die Arbeit deshalb besonders sorgfältig. Dennoch glitten seine Gedanken immer wieder ab. Die Söhne des Teufels gingen ihm nicht aus dem Kopf. Filii Satani. Wenn es sie wirklich in Menschengestalt gab, dann waren es wahrscheinlich drei – genau wie auf dem rechten Flügel des Gabriel-Triptychons. Drei Altarfrevler. Und vielleicht drei Mörder, die in Kirchrode frei herumliefen und j ede seiner Nachforschungen genau verfolgten.
    Und sich dabei ins Fäustchen lachten.

NEUNTER
BEHANDLUNGSTAG
    Lapidius hatte immer gedacht, Apotheker seien die gesündesten Menschen der Welt, da sie steten Zugriff auf die besten Arzneien besaßen, doch an diesem Morgen wurde er eines Besseren belehrt. Herobert Veith sah leidend aus. Er hatte Hängebacken, Tränensäcke und jene scharfen Falten um den Mund, die für Magenkranke typisch waren. Seine Gesichtshaut stach ins Gelbliche und hatte damit etwas mit der Augenfarbe gemein. Es waren kleine, scharf beobachtende Augen, die sich hinter einem Brillengestell versteckten.
    »Ich neige zur Weitsichtigkeit«, erklärte Veith mit seltsam heiserer Stimme, nachdem sie einander vorgestellt hatten. »Was mir nicht selten bei der

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