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Die Hofnärrin

Die Hofnärrin

Titel: Die Hofnärrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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ganzen Tag nicht sehen ließ, bat mich Mr. Dee um Hilfe bei
der Übersetzung einer Prophezeiung, die seiner Meinung nach die Königin
betreffen konnte. Ich musste ihm eine Reihe augenscheinlich
unzusammenhängender griechischer Wörter vorlesen, die er sorgfältig
niederschrieb; jedes Wort hatte einen bestimmten Zahlenwert. Wir hatten
uns in die Bibliothek gesetzt, einen wenig benutzten, eiskalten Raum.
Robert wies einen Diener an, den Kamin anzuzünden, und ein anderer
Diener musste die Fensterläden öffnen.
    »Es sieht aus wie ein Code«, bemerkte ich, als die Diener mit
ihrer Arbeit fertig waren und uns wieder allein gelassen hatten.
    »Es ist die Geheimschrift der antiken Gelehrten«, erklärte er.
»Vielleicht kannten sie sogar den Code des Lebens.«
    »Einen Code des Lebens?«
    »Was wäre, wenn alles auf der Welt aus dem gleichen Stoff
gemacht ist?«, fragte er unvermittelt. »Sand und Käse, Milch und Erde?
Was wäre, wenn hinter der scheinbaren Ungleichheit, hinter ihrem
Mäntelchen, wenn man so will, nur ein Urstoff existiert, den man sehen,
zeichnen, vielleicht sogar neu erschaffen kann?«
    Ich schüttelte meinen Kopf. »Was wäre dann?«
    »Dieser Stoff könnte der Code für alles und jedes sein«, sagte
John Dee. »So etwas wie ein Gedicht, das die Seele der Welt enthält.«
    Danny, der auf einem breiten Fußschemel neben mir geschlafen
hatte, regte sich im Schlaf und erwachte. Er setzte sich auf und
blickte lächelnd um sich. Das Lächeln wurde zu einem Strahlen, als er
mich sah. »Hallo, mein Junge«, begrüßte ich ihn zärtlich.
    Danny rutschte vom Schemel herunter und wackelte auf mich zu.
Er hielt sich vorsorglich mit einer Hand am Schemel fest und griff
schnell nach meiner, um im Gleichgewicht zu bleiben. Sein Fäustchen
packte eine Falte meines Kleides, und sein kleines Gesicht sah
erwartungsvoll zu mir hoch.
    »Er ist sehr still«, bemerkte John Dee.
    »Er spricht nicht«, gestand ich und erwiderte Dannys Lächeln.
»Doch dumm ist er nicht. Er versteht alles. Er kann Gegenstände
herbeiholen, er kennt ihre Namen. Er weiß auch, wie er selbst
heißt – nicht wahr, Danny? Aber er will einfach nicht
sprechen.«
    »Ist er immer schon so gewesen?«
    Die Angst schnürte mir die Kehle zusammen. Ich wusste ja
nicht, wie Danny vorher gewesen war. Wenn ich zugab, ihn erst seit
Kurzem zu kennen, würden sie ihn mir nehmen. Er war nicht mein Kind,
ich hatte ihm nicht das Leben geschenkt, aber seine Mutter hatte ihn in
meine Arme gelegt, und sein Vater war mein Mann, und was immer ich
Daniel an Liebe und Pflicht schuldete, mochte dadurch aufgewogen
werden, was ich seinem Sohn Gutes tat.
    »Ich weiß es nicht. In Calais ist er von einer Amme aufgezogen
worden«, log ich. »Sie hat ihn erst zu mir gebracht, als die Stadt
bereits belagert wurde.«
    »Vielleicht hat er einfach nur Angst?«, überlegte John Dee.
»Hat er die Kämpfe miterlebt?«
    Mein Herz zog sich so stark zusammen, dass es schmerzte.
Ungläubig starrte ich ihn an. »Angst? Aber er ist doch ein kleines
Kind! Wie hätte er wissen können, dass ihm Gefahr drohte?«
    »Wer weiß, was er denkt oder was er versteht«, meinte John
Dee. »Ich glaube nicht daran, dass Kinder nur das wissen, was ihnen
beigebracht wird, als wären sie leere Gefäße, die lediglich gefüllt
werden müssen. Er hat vermutlich ein Heim gekannt und eine Frau, die
für ihn sorgte, und dann hatte er Angst, als sie durch die Straßen lief
und nach dir suchte. Kinder wissen mehr, als wir uns vorstellen können,
glaube ich. Vielleicht hat er zu viel Angst, um zu sprechen.«
    Ich beugte mich über Danny. Seine glänzenden schwarzen Augen
erwiderten meinen Blick; sie waren wie die schwimmenden Augen eines
kleinen Rehs. »Daniel?«, sprach ich ihn an.
    Zum ersten Mal sah ich ihn als wirklichen Menschen, als Mensch
mit Gedanken und Gefühlen, als ein Kind, das den Armen seiner Mutter
brutal entrissen und der Obhut einer Fremden übergeben worden war. Ein
Kind, das zugesehen hatte, wie seine Mutter von einem Pferd umgerissen
und von einer Lanze durchbohrt worden war, ein Kind, das seine Mutter
im Rinnstein hatte sterben sehen. Danach war er wie ein unerwünschtes
Paket auf ein Schiff getragen und ohne Erklärung in England ausgeladen
worden, um daraufhin auf dem Rücken eines Pferdes durchgerüttelt und zu
einem kalten Haus inmitten einer Einöde gebracht zu werden –
und alles ohne eine vertraute Seele an seiner Seite.
    Dies war das Kind, das seine Mutter hatte sterben sehen.

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