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Die Hofnärrin

Die Hofnärrin

Titel: Die Hofnärrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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du etwas?«, fragte Dee. Er klang ungeheuer aufgeregt.
    »Ich habe geglaubt, meine Mutter zu sehen«, flüsterte ich.
    Er stutzte einen Moment. »Kannst du sie hören?« Seine Stimme
zitterte.
    Ich wartete einen Augenblick, sehnte mich von ganzem Herzen
danach, dass meine Mutter zurückkehren möge. Doch es war nur mein
eigenes Gesicht, das mich aus dem Spiegel anblickte. Meine Augen waren
sehr groß und dunkel vor ungeweinten Tränen.
    »Sie ist nicht da«, sagte ich traurig. »Ich würde alles darum
geben, nur noch einmal ihre Stimme zu hören, aber es geht nicht. Sie
hat mich verlassen. Ich habe einen Augenblick lang geglaubt, sie zu
sehen – es war aber nur mein eigenes Gesicht.«
    »Ich möchte, dass du die Augen schließt«, sagte John Dee, »und
aufmerksam dem Gebet lauschst, das ich jetzt vorlesen werde. Wenn du
das Amen sprichst, kannst du die Augen wieder aufmachen, und dann sagst
du mir, was du siehst. Bist du bereit?«
    Ich schloss die Augen und hörte, wie er leise die wenigen
Kerzen ausblies, die das düstere Zimmer erleuchteten. Hinter mir, das
spürte ich deutlich, saß Lord Robert still auf einem hölzernen Stuhl.
Ich tat dies alles nur ihm zu Gefallen. »Ich bin bereit«, flüsterte ich.
    Es war ein langes Gebet auf Latein, dem ich trotz Mr. Dees
englischer Aussprache der Worte folgen konnte. Es war eine Bitte um
Führung und eine Anrufung der Engel, die kommen und unser Werk
beschützen sollten. Ich flüsterte »Amen« und öffnete dann die Augen.
    Alle Kerzen waren erloschen. Der Spiegel war ein dunkler See,
Schwarz gespiegelt in Schwarz, ich konnte überhaupt nichts erkennen.
    »Zeige uns, wann der König sterben wird«, flüsterte Mr. Dee
hinter meinem Rücken.
    Ich schaute in den Spiegel und wartete, dass etwas geschah,
während meine Augen die Schwärze zu durchdringen suchten.
    Nichts.
    »Der Todestag des Königs«, flüsterte Dee.
    In Wirklichkeit konnte ich überhaupt nichts sehen. Ich
wartete. Nichts offenbarte sich. Wie auch? Ich war keine Sybille auf
einem griechischen Hügel, ich war keine Heilige, der die Mysterien
enthüllt wurden. Ich starrte in die Dunkelheit, bis meine Augen heiß
und trocken wurden, und ich war mir nur bewusst, dass ich kein heiliger
Narr war, sondern nichts als ein dummer Tölpel, der ein Nichts
anstarrte, eine Spiegelung eines Nichts, während der größte Gelehrte im
Königreich auf meine Antwort wartete.
    Ich musste etwas sagen. Es gab kein Zurück. Ich konnte ihnen
nicht gestehen, dass meine Gabe mich so selten und so unvermittelt
heimsuchte, dass sie besser daran getan hätten, mich damals an der Wand
von meines Vaters Geschäft stehen zu lassen. Sie hatten mich gekauft
und erwarteten nun, dass sich der Kauf bezahlt machte. Ich musste etwas
sagen.
    »Juli«, sagte ich stockend. Es war eine Antwort so gut wie
jede andere.
    »In welchem Jahr?«, fragte Mr. Dee sehr leise.
    Schon der gesunde Menschenverstand sagte einem doch, dass der
junge König kaum länger leben würde. »In diesem Jahr«, antwortete ich
unwillig.
    »Der genaue Tag?«
    »Der sechste«, flüsterte ich als Antwort und hörte das Kratzen
von Lord Roberts Feder, der meine falsche Prophezeiung aufzeichnete.
    »Nenne uns den Namen des nächsten Regenten von England«,
flüsterte Mr. Dee.
    Ich wollte gerade ›Königin Maria‹ sagen, im gleichen
verzückten Ton wie er. Doch stattdessen entschlüpfte mir zu meinem
Erstaunen: »Jane.«
    Ich wandte mich an Lord Robert. »Ich weiß nicht, warum ich das
gesagt habe. Es tut mir so leid, Mylord. Ich weiß nicht, was …«
    John Dee legte mir eine Hand auf den Mund und drehte meinen
Kopf wieder dem Spiegel zu. »Sprich nicht!«, befahl er. »Sag uns nur,
was du siehst.«
    »Ich sehe nichts«, gab ich hilflos zu. »Es tut mir leid, es
tut mir leid, Mylord. Es tut mir leid, ich kann überhaupt nichts sehen.«
    »Der König, der nach Jane kommt«, drängte er. »Schau in den
Spiegel, Hannah. Sag mir, was du siehst. Wird Jane einen Sohn haben?«
    Ich hätte zu gern ›Ja‹ gesagt, aber mein Mund war so trocken,
dass meine Zunge sich nicht regen wollte. »Ich kann es nicht sehen«,
sagte ich demütig. »Wirklich, ich sehe nichts.«
    »Ein Abschlussgebet«, mahnte Mr. Dee und bannte mich mit
festem Griff um die Schultern auf meinen Stuhl. Wieder betete er in
Latein, das Werk möge gesegnet sein, die Visionen sollten eintreffen,
und niemand in dieser Welt oder in einer anderen sollte durch unseren
Versuch zu sehen in Mitleidenschaft gezogen

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