Die Hofnärrin
Mann nicht
ins Gesicht schauen können. Und als mein Vater starb und mein Bruder
den Thron bestieg, dachte ich, ich könnte ihm eine Art Königinmutter
sein, eine geliebte Stiefmutter, eine ältere Schwester, die ihm Rat
erteilt, und ich nahm an, er würde Kinder haben, für die ich sorgen
könnte. Doch nun ist alles anders gekommen, und ich bin Königin
geworden. Doch obwohl ich die Königin bin, muss ich feststellen, dass
ich immer noch nicht wählen darf, wie ich will.« Sie hielt inne. »Sie
haben mir Philipp von Spanien angeboten, wie du weißt.«
Ich wartete.
Sie beugte sich eifrig zu mir vor, als könnte ich ihr Rat
geben. »Hannah, ich bin kein Mann, aber ich bin auch als Frau nicht
vollständig. Ich kann nicht als Mann regieren, und ich kann dem Land
nicht den Erben geben, den zu ersehnen es ein Anrecht hat. Ich bin ein
Halbprinz. Weder Königin noch König.«
»Sicherlich braucht das Land nichts weiter als einen
Herrscher, den es respektieren kann«, wagte ich mich vor. »Und es
braucht Frieden, einen langen Frieden. Ich bin neu in diesem Land, doch
selbst ich erkenne, dass die Menschen hier nicht mehr wissen, was recht
ist und was unrecht. Die Kirche hat sich während ihres Lebens immer
wieder gewandelt, und sie müssen sich nun ständig mit wandeln. Und es
gibt so viel Armut in der Stadt und Hunger auf dem Lande. Könnt Ihr
nicht warten mit der Heirat? Könnt Ihr nicht einfach die Armen speisen
und den Landlosen ihr Land zurückgeben, könnt ihr nicht die Menschen
wieder in Lohn und Brot bringen und die Straßen von Bettlern und Dieben
säubern? Könnt Ihr nicht der Kirche ihre Schönheit zurückgeben und den
Klöstern ihre Ländereien?«
»Und wenn ich das alles getan habe?«, fragte Königin Maria,
und ein seltsam stärker werdendes Zittern lag in ihrer Stimme. »Was
dann? Wenn das Land wieder sicher im Schoße der Kirche ruht, wenn jeder
wohlgenährt ist, wenn die Scheuern voll und die Mönchs- und
Nonnenklöster wieder reich sind? Wenn die Priester keusch sind und die
Bibel den Menschen auf die rechte Art vorgetragen wird? Wenn auf jedem
Marktflecken die Messe gelesen wird, und wenn die Glocken zur Frühmette
über die Felder läuten, wie es Gott geziemt und immer schon geziemt
hat? Was dann?«
»Dann werdet Ihr die Aufgabe erfüllt haben, vor die Gott Euch
gestellt hat … oder nicht …?«, stammelte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, was dann kommt. Dann
werde ich krank oder erleide einen Unfall und sterbe ohne Nachkommen.
Und dann stehen diese Bastardin Anna Boleyn und der Lautenspieler Mark
Smeaton auf, um den Thron einzufordern: Elisabeth. Und in dem Moment,
wo sie auf dem Thron sitzt, wirft sie ihre Maske von sich und zeigt ihr
wahres Gesicht!«
Ich erkannte diese zischende Stimme kaum als die Stimme
Königin Marias wieder. Ihr Gesicht war vor Hass verzerrt. »Warum, was
ist denn ihr wahres Gesicht? Was hat sie getan, um Euch dermaßen in Wut
zu versetzen?«
»Sie hat mich betrogen«, erwiderte Königin Maria. »Als ich um
unser Erbe kämpfte, das ihres so gut wie meines ist, schrieb sie Briefe
an den Mann, der mich besiegen wollte. Ich weiß das jetzt. Während ich
sowohl für mich als auch für sie kämpfte, traf sie eine Vereinbarung
mit ihm für den Fall meines Todes. Sie hätte sie auf meinem Richtblock
unterzeichnet.
Als ich sie an meiner Seite in London einziehen ließ, jubelten
sie der protestantischen Prinzessin zu, und sie lächelte ob des Jubels.
Als ich ihr Lehrer und Gelehrte schickte, die ihr die Irrtümer ihres
Glaubens erklären sollten, lächelte sie auch ihnen zu, mit dem schlauen
Lächeln ihrer Mutter, und sagte, nun würde sie verstehen, nun würde sie
das Sakrament und den Segen der Messe annehmen.
Und erscheint zur Messe wie eine Frau, die gegen ihr Gewissen
dazu gezwungen worden ist. Hannah! Als ich nicht älter war als sie, hat
mich der mächtigste Mann Englands verdammt und mir mit dem Tode
gedroht, falls ich mich nicht der neuen Religion unterwarf. Sie nahmen
mir die Mutter, und sie starb krank, gebrochenen Herzens und einsam,
doch sie hat nie ihr Knie vor ihnen gebeugt. Sie haben mich wegen
Hochverrats mit dem Schafott bedroht! Sie haben mich wegen Ketzerei mit
dem Scheiterhaufen bedroht! Viele Männer und Frauen sind verbrannt
worden, weil sie Geringeres gesagt haben als ich. Ich musste meinen
ganzen Mut zusammennehmen und an meinem Glauben festhalten, und ich
habe nicht widerrufen, bis der Kaiser von Spanien selbst mir auftrug,
es doch zu
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