Die Holzhammer-Methode
er das Gefühl, dass sie ihn nicht nur als Stütze in schlechten Zeiten benutzte. Ihr schien es inzwischen schon wieder ganz gut zu gehen. Sie war eine Persönlichkeit, die sich nicht leicht aus der Bahn werfen ließ, die Schwierigkeiten ins Auge blickte, um sie zu meistern. Vielleicht war sie die Frau, die sein Karma auflöste. Er blickte auf die Uhr. Schon fast Zeit, seine Sachen zusammenzupacken.
Gegen zwölf steuerte Holzhammer wieder die Polizeistation an. Die Verkäuferinnen vor der Tür seines Dienstzimmers, die sich nach den anfänglichen Streitereien inzwischen ganz angeregt unterhielten, gingen sofort auf ihn los. Er flüchtete in sein Büro.
«Wie schaut es aus?», fragte er und ging um den Schreibtisch herum, um einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Doch der wurde komplett verdeckt, da die beiden Frauen sich darüberbeugten. Sie waren ganz in ihre Arbeit vertieft und offensichtlich genervt über die vorzeitige Störung.
«Wir sind noch nicht fertig», antwortete die Phantombildnerin.
«Ich erinnere mich immer besser, je mehr ich sehe», sagte Beate stolz. «Dieses Computerprogramm ist toll.»
«Ja, aber Sie sind auch gut», lobte die Münchnerin und riss sich vom Bildschirm los. Zu Holzhammer gewandt, erklärte sie: «Wir sind tatsächlich schon ein ganzes Stück weiter, aber wir sind noch längst nicht fertig. Die Zeugin hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber die Vermummung der fraglichen Person macht es recht schwierig.»
Auch die aufmerksamkeitsstarke Beate kreiselte in dem ihr zugewiesenen Bürostuhl, um Holzhammer anzuvisieren. Endlich konnte er einen Blick auf den Bildschirm erhaschen. Das Bild war nicht so präzise wie ein Foto, es hatte an einigen Stellen seltsame Unschärfen, weil das exakt passende Modul noch nicht gefunden war. Doch obwohl es aus lauter Einzelteilen zusammengesetzt war, wirkte es wie das Porträt einer real existierenden Person. Sofort wusste er, dass er diese Frau schon gesehen hatte.
«Ich kenne sie», murmelte er, mehr zu sich selbst. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass alles andere eine Überraschung gewesen wäre. Schließlich kannte er fast jede Person im inneren Landkreis zumindest vom Sehen. Plötzlich hatte er die ganze Aufmerksamkeit der beiden Frauen. «Wer ist es?», fragten sie im Chor und blickten zu ihm auf.
«Ich kenne das Gesicht, zumindest glaube ich es. Aber ich weiß nicht … ich glaube, ich habe sie erst kürzlich gesehen. Darf ich mal näher ran?» Holzhammer beugte sich vor. Beate stand bereitwillig auf und machte ihm den Platz am Bildschirm frei.
«Welcher Teil kommt Ihnen am bekanntesten vor?», fragte die Zeichnerin.
Holzhammer deutete auf die Augenpartie und die Wangen: «Ich denke, das hier. Es kommt mir richtig vor. Aber dazwischen … Vielleicht ist es die Nase. Haben Sie eine andere Nase?»
«Breiter oder schmaler?»
Holzhammer wusste es nicht, dachte nach. Er merkte sich Gesichter nicht an irgendwelchen Details. Er speicherte sie im Ganzen, wie jeder normale Mensch. Die Phantombildnerin ließ verschiedene Nasen in dem Gesicht auftauchen, und Holzhammer kommentierte: «So ähnlich, aber breiter, nein, zurück. So ungefähr. Nein, die andere …»
Plötzlich sagte er nichts mehr. Einen Moment war es still. Beide Frauen sahen gespannt auf Holzhammer. Der schloss die Augen. Dann sprang er plötzlich so hastig auf, dass der Drehstuhl auf dem glatten Linoleum gegen die Heizung schleuderte. «Jesus Christus! Ich muss weg!» Damit rannte er aus dem Zimmer.
«Ihr könnt gehen, ihr könnt alle gehen», rief er noch über die Schulter in sein Zimmer und zu den draußen wartenden Zeuginnen. Dann steckte er den Kopf in das Zimmer, in dem zwei junge Kollegen saßen. «Los, mitkommen! Verhaftung Mörderin!»
Die beiden waren völlig verdattert, es war die erste Verhaftung im Landkreis, die Holzhammer sich nicht alleine zutraute. Sie ließen alles stehen und liegen, rissen Jacken und Mützen vom Haken und rannten hinter ihm her zum Parkplatz vor der Station.
«Ihr folgt mir», japste Holzhammer, nun schon ziemlich außer Atem. Dann warf er sich in seinen Dienstwagen, schaltete beim Ausfahren aus dem Parkplatz das Blaulicht ein und raste die Hauptstraße hinunter. Wieder einmal hatte er keine Zeit gefunden, seinen Chef ins Bild zu setzen.
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12
Matthias war auf dem Heimweg und verfluchte die Tatsache, in einem Urlaubsgebiet zu wohnen. Normalerweise behielt er ja die Ruhe, wenn vor ihm mal wieder ein Auto mit
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