Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
was seine Gefühle anbelangte. Ich konnte darin blättern und wusste genau, ob er traurig oder glücklich war – und besonders ob er die Wahrheit sagte oder nicht.
»Ich habe noch keine gefunden«, gab er zu. »Ich bin direkt hierher gekommen. Ich wollte keine Zeit verlieren, die ich mit dir verbringen konnte«, erklärte er. »Ich werde mir jetzt eine suchen.«
»Es ist schon spät, Roy.Wo willst du denn suchen?«
»Ich habe ein paar Adressen, die meine Freunde mir gegeben haben«, sagte er und klopfte sich auf die Jacketttasche.
Ich starrte ihn an, und er fing an zu lachen.
»Du hast ja gesehen, was ich für ein Zimmer habe, aber du kannst gerne auf dem Boden schlafen«, sagte ich.
»Wirklich? Bekommst du dann keine Schwierigkeiten?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Großonkel Richard mich noch einmal wegen irgendetwas ins Gebet nehmen würde.
»Klar«, sagte er. »Das ist dann fast wie in alten Zeiten. Wir beide unter dem gleichen Dach.«
»Okay, aber lass uns leise sein. Ich möchte lieber nicht, dass Boggs an mir herumnörgelt«, warnte ich ihn. »Der ist schlimmer als dein Feldwebel.«
»Das bezweifle ich«, sagte Roy.
»Du hast Boggs noch nicht kennen gelernt«, entgegnete ich.
Im Haus war es wie üblich totenstill, als wir eintraten.
So leise wie möglich gingen wir den Korridor entlang zu meinem Zimmer.
Ich erklärte Roy, wo das Badezimmer war, und machte mich dann fertig fürs Bett. Ich machte ihm so gut wie möglich mit einer Decke und einem Kopfkissen ein Bett zurecht. Als er das provisorische Bett sah, lächelte er.
»Ich habe mein Möglichstes getan«, sagte ich.
»Ich habe schon schlechter geschlafen, Rain«, versicherte er mir. »Zumindest ist es nicht feucht. Wir
sind hier nicht in einem Unwetter, und es krabbeln keine Insekten und Ratten über dich.«
Ich ging ins Badezimmer. Als ich wiederkam, lag er in seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf, schaute an die Decke und lächelte, als läge er im weichsten Himmelbett mit Seidenlaken und -kissenbezügen.
»Ich sollte dir sagen«, erzählte ich ihm, als ich in mein Bett kroch, »dass es in diesem Zimmer spukt.«
»Spukt? Was meinst du damit?«
Ich erzählte ihm die Geschichte des ursprünglichen Besitzers und seiner Geliebten. Roy hörte mit weit aufgerissenen Augen zu, besonders als ich ihm einige der Geräusche, den Luftzug und das leise Weinen, schilderte, die ich mir entweder einbildete oder von Zeit zu Zeit hörte.
Rasch setzte er sich auf.
»Verdammt noch mal, Rain.Vielleicht ist das hier nicht viel besser als ein Rattenloch. Aber zumindest hatten wir auf dem Marsch nie Gespenster bei uns.«
Ich lachte. Was für ein gutes Gefühl es war, ihn in der Nähe zu haben, zu wissen, dass er wieder da war, um mich zu beschützen und auf mich aufzupassen. All die Erinnerungen an ihn kehrten zurück, wie er sich in der Stadt immer in der Nähe aufhielt, wenn ich mich allein, ungeschützt und verletzlich wähnte. Würde ich jemals jemanden finden, der mich so hingebungsvoll liebte? Wenn Mama doch nur so jemanden gefunden hätte, dachte ich.Wie war es möglich,
dass aus Kens Samen ein so guter Mensch wie Roy entstehen konnte? Bestimmt gab es noch andere Zutaten, die Gott selbst in die Mischung einfließen ließ. Ich hoffte und betete, dass er auch für mich etwas extra hinzugefügt hatte.
»Jetzt hab keine Angst, Roy. Ich bin hier, um dich zu beschützen«, sagte ich.
»Klar«, meinte er lachend. Er drehte sich um und schaute mich an. »Macht es dir etwas aus, wenn ich dich eine Weile anschaue, zusehe, wie du einschläfst?«, fragte er. »Das habe ich zu Hause oft getan, und du wusstest es nicht einmal.«
»Was? Wann?«
»Ach, bei verschiedenen Gelegenheiten. Beni schlief fest, ich schlich mich in euer Zimmer und starrte dich einfach an.«
»Hast du nicht.«
»Oh doch.«
»Wann?«
»Oft, Rain, besonders während des letzten Jahres, als wir alle zusammen waren. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, über die Dinge, die passierten, und über die Schwierigkeiten, in die Beni dich bringen könnte. Und …«, sagte er einen Augenblick später, »… ich wollte dich einfach anschauen. Du warst schon immer das schönste Mädchen, das ich kannte.«
Ich spürte, wie mir die Hitze den Hals hochkroch und ins Gesicht stieg.
»Es gibt haufenweise schöne Mädchen auf der Welt, Roy.«
»Nicht für mich«, widersprach er und schüttelte so entschieden den Kopf, dass mir das Herz schwer
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