Die Hudson Saga 02 - In dunkler Nacht
um das Frühstück zu servieren.«
»Wie weit weg wohnst du denn?«, fragte ich und trat auf sie zu.
»Nur eine halbe Stunde mit der U-Bahn. Ich muss jetzt nach Hause«, fügte sie hinzu und trat zurück, als sei es verboten, mit mir zu reden.
»Geht es Mrs Endfield gut?«, fragte ich rasch.
»Ja«, sagte sie, kniff aber die Augen zusammen. »Warum fragst du?«
»Ich versuchte heute Vormittag mit ihr zu reden, aber sie antwortete nicht, als ich an ihrer Schlafzimmertür klopfte. Ich hörte sie summen, aber anscheinend hörte sie mich nicht, auch nicht als ich lauter klopfte und sie rief. Ich dachte, sie wäre vielleicht krank.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mary Margaret und schüttelte den Kopf. »Darüber weiß ich nichts.« Sie wich noch schneller zurück, drehte sich auf dem Absatz um und ging schnell die Kopfsteinauffahrt hinunter. Nicht einmal blieb sie stehen, um mir einen Blick zuzuwerfen. Ich beobachtete, wie sie eilig davonlief, und wandte mich dann wieder dem Haus zu.
Meine Blicke wurden sofort zu einem Fenster nach oben gezogen. Der Vorhang stand offen.
Ich glaubte, es sei das Fenster des Schlafzimmers meiner Großtante und meines Großonkels, aber die Frau, die dort stand, hatte längeres, helleres Haar als Großtante Leonora. Sie stand im Schatten und ich erhaschte nur einen Blick auf sie, bevor der Vorhang sich wieder schloss.
Wer war sie, fragte ich mich. Sir Godfreys Mätresse? Ich ängstigte mich, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Sobald ich das Haus betrat, lauschte ich einen Moment und ging dann den Flur zu meinem Zimmer hinunter. Ich wollte mich entspannen und lesen und Großmutter Hudson und Roy Briefe schreiben.
Im Haus war es seltsam ruhig, die Lichter in allen Zimmern waren gelöscht oder gedämpft. Anscheinend
war auch Boggs nicht in der Nähe, und ich würde ihn ganz bestimmt nicht suchen. Vielleicht nahm der Drache sich auch manchmal frei.
Als ich zu meinem Zimmer gelangte, hallte mir der Klang meiner Schritte noch in den Ohren. Früher lebte ich in einer Welt voller Gefahren, wo Drogenabhängige hinter der nächsten Ecke lauerten, um sich auf Leute zu stürzen und ihnen Geld abzunehmen, damit sie ihre Sucht finanzieren konnten, wo unschuldige Passanten im Kreuzfeuer der Bandenkriege starben, wo Eltern zitterten, wenn ihre Kinder außer Haus waren, wo die Nacht erfüllt war vom schrillen Heulen der Sirenen – Geräusche, die unser Herz schneller klopfen ließen und unsere Gedanken mit Bildern des Entsetzens erfüllten. Ich hatte jeden Grund, dort Angst zu haben.
Welchen Grund hatte ich hier,Angst zu haben, wo ich unter reichen Leuten lebte, die Dienstboten hatten und von Silbertellern aßen? Ich hörte nachts keine Sirenen, und dennoch war die Stille noch furchteinflößender.
Rasch schloss ich die Tür hinter mir.
Die Tür ohne Schloss.
KAPITEL 6
Joie de vivre
W enige Augenblicke, nachdem mein Wecker mich aus dem Schlaf hochgescheucht hatte, hörte ich Boggs an meiner Schlafzimmertür vorbeigehen. Die Dielen des alten Holzfußbodens im Flur ächzten unter den Absätzen seiner schweren Stiefel. Vermutlich zuckte das ganze Haus zusammen, wenn Boggs aufwachte. Wenn es wirklich ein Gespenst hier gab, rollte es sich hinter irgendeiner alten Mauer zusammen und wartete, bis er vorübergegangen war. Zumindest hatte ich ihn dadurch, dass ich mir einen Wecker kaufte, des Vergnügens beraubt, an meine Tür zu klopfen.
Am Abend zuvor war ich lange aufgeblieben und hatte Briefe geschrieben. Ich hatte es zuerst nicht vorgehabt, aber als ich begann, Großmutter Hudson alles zu beschreiben, schilderte ich auch alle Einzelheiten über die Schule und die Sehenswürdigkeiten, die ich besucht hatte. Mein Brief war seitenlang, und ich hielt ihn ganz in einem positiven glücklichen Ton. Mein Brief an Roy sah ähnlich aus. Wir hatten eine ganze Menge nachzuholen, und ich hatte viele Fragen über sein neues Leben. Schließlich stopfte ich
die Briefe mit müden Augen ins Kuvert, klebte sie zu und ging schlafen.
Trotz meiner Erschöpfung schlief ich nicht so schnell ein, wie ich gedacht hatte.Viele verschiedene Gefühle hatten sich im Laufe des Tages miteinander vermischt, bis eine feste Schnur um mein Herz gewoben war, eine Schnur mit Fasern aus Traurigkeit und Zorn, Freude und Liebe, Aufregung und Niedergeschlagenheit, Hoffnung und Verzweiflung. Randalls schöne Augen blitzten auf und auch die Gesichter einiger der sorgenvollen Frauen auf den Gemälden, die ich in der National
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