Die Hüterin des Schattenbergs
ihn dann für einen Unreinen halten? W ürden sie ihn dann töten? Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte Rik sich, zu denen zu gehören, die alles klaglos hinnahmen. Ein verstohlener Blick zur Seite zeigte ihm, dass Jemina sich nicht halb so viele Sorgen zu machen schien wie er. A ufmerksam, aber ohne Furcht schaute sie sich um und als sich ihre Blicke begegneten, gelang ihr sogar ein Lächeln. »Siehst du«, sagte sie voller Zuversicht, »Wir sind drin und uns ist nichts passiert.«
»Uns ist noch nichts passiert«, widersprach Rik. Er rechnete nach wie vor mit einem A ngriff. »Vermutlich sind wir noch zu nah am T or.«
Vor ihnen tat sich die breite Gasse aus massivem Felsgestein auf, von der Salvias gesprochen hatte. Schnurgerade führte sie vom T or aus zur Mitte der Feste, dorthin, wo die vier mächtigen T ürme alles andere überragten. Zu beiden Seiten der Gasse erhoben sich Gebäude aus demselben Felsgestein, aus dem auch die Straße und die Gebäude bestanden.
Im Licht der Nachmittagssonne erreichten sie unbehelligt den Platz in der Mitte der Feste. Es war ein seltsames Gefühl, allein an diesem einsamen Ort zu sein. Die Feste war verlassen, machte aber keinen verwahrlosten Eindruck: A lle Gebäude waren intakt, die Straßen waren so sauber, als würden Geister sie jeden T ag fegen, und in den Fensterscheiben der Häuser spiegelte sich die Sonne, als wären sie frisch geputzt.
»Spürst du das auch?« Obwohl Jemina dicht neben Rik ging, flüsterte sie. »Wir werden beobachtet!«
Rik versuchte, sich unauffällig umzuschauen. »Das würde mich nicht wundern.«
»Was machen wir jetzt?« Jeminas unerschütterliche Zuversicht schien zu wanken.
»Keine A hnung. W eitergehen?« Das klang mutiger, als Rik sich fühlte. Er deutete auf den T urm, der ihnen am nächsten war. »Da ist die T ür, von der Salvias gesprochen hat.«
»Sieht nicht gerade einladend aus.« Jemina schnitt eine Grimasse. »Es ist so dunkel dahinter und wir haben keine Fackel dabei.«
»Die brauchen wir auch nicht«, erwiderte Rik. »Ich glaube, man erwartet uns.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nun, es ist die einzige T ür, die offen steht. Die T üren der übrigen T ürme sind geschlossen.« Rik deutete auf die drei anderen Eingänge.
Jemina blieb stehen. »Das macht mir A ngst.«
Rik schaute Jemina erstaunt an. W ie unterschiedlich sie doch waren! Die geöffnete T ür war für ihn kein Grund, sich zu fürchten, im Gegenteil. Der A nblick beruhigte ihn, weil er die ganze Zeit mit einem A ngriff aus dem Hinterhalt gerechnet hatte. Die geöffnete T ür war für ihn wie eine stumme Einladung. »Hab V ertrauen.« W ie selbstverständlich ergriff er Jeminas Hand. »Wenn die W ächter uns Böses wollten, hätten sie uns schon längst angegriffen.«
»Und wenn das eine Falle ist?« Jemina entzog ihm die Hand nicht.
»Warum sollten sie uns eine Falle stellen?«, überlegte Rik laut. »Wir sind ihnen schutzlos ausgeliefert. Sie wissen, dass wir nach dem Buch suchen und auch, wo wir es suchen werden. Ich glaube, du hattest recht: Die W ächter wissen von dem T od der Hüter und sind gewillt, uns zu helfen.«
»Bleibst du bei mir?«
»Natürlich.« Rik umfasste Jeminas Hand noch etwas fester.
»Gut.« Jemina schenkte ihm ein scheues Lächeln. »Dann lass uns hineingehen.«
Die T ür war sehr schmal, gerade breit genug für einen schlanken Menschen. Rik schlüpfte zuerst hindurch. Jemina folgte ihm. Hinter der T ür begann eine T reppe. Der eine T eil führte gewunden nach oben und entzog sich ihren Blicken, der andere führte direkt nach unten in das Kellergewölbe, so wie Salvias es beschrieben hatte. Obwohl es von außen so ausgesehen hatte, war es im Innern des T urms nicht wirklich dunkel. Durch die geöffnete T ür fiel genügend Licht hinein, sodass man die Stufen bis zum Ende der T reppe erkennen konnte. Dort, wo sie den Boden berührten, hing eine altertümliche Laterne an der W and.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte Rik sich bei Jemina, als sie im Halbdunkel neben ihm auftauchte. Jemina nickte. Sie wirkte klein und verletzlich. Noch mehr als in dem endlosen T reppenschacht hatte Rik das Gefühl, sie beschützen zu müssen. »Na dann los.« Er betrat die erste Stufe und wünschte sogleich, es nicht getan zu haben. Nur Bruchteile eines W impernschlags später fuhr ein Rauschen wie von einem starken W ind durch den T urm und warf die T ür hinter ihnen krachend ins Schloss.
6
I m großen Saal der Feste der Magier war es so
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