Die Insel der roten Erde Roman
wäre sie allen Ärger wert, den sie möglicherweise verursacht. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass die Kinder wie kleine Wilde aufwachsen.« Im Geist sah er verwahrloste Vagabunden ohne jede Manieren vor sich.
Sarah musste an Amelia denken. Bei einem Sonderling wie Evan, bei dem sie bis zum Umfallen schuften und obendrein sechs Kinder versorgen müsste, würde ihr Leben die Hölle sein. Und genau das hatte sie Sarahs Ansicht nach verdient.
»Hast du auf dem Schiff mit dieser jungen Frau gesprochen?«, wollte Charlton wissen.
»Ich bitte dich, Charlton!« Edna warf ihm einen gereizten Blick zu. »Warum sollte Amelia sich mit einer Zuchthäuslerin unterhalten?«
Charlton blickte verwirrt. »Ich könnte mir vorstellen, dass ein heilloses Chaos ausgebrochen ist, nachdem das Schiff aufs Riff gelaufen war. Ich glaube kaum, dass Standesunterschiede da noch eine Rolle gespielt haben.«
»Onkel Charlton hat vollkommen Recht«, pflichtete Sarah ihm bei. Er war freundlich und verständnisvoll; deshalb musste sie Partei für ihn ergreifen. »Der Zufall hat entschieden, wer einen Platz im Rettungsboot bekam. Das Schiff war zu dem Zeitpunkt schon auseinander gebrochen, und die meisten Rettungsboote hatte der Sturm fortgerissen, sodass für die Menschen im Heck nur noch ein einziges Boot zur Verfügung stand. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Strafgefangene mit mir im Rettungsboot saß, aber es wäre mir in der Situation auch völlig gleichgültig gewesen.«
»Aber natürlich, Liebes«, sagte Edna erschüttert. »Es ist furchtbar, was du durchgemacht hast.«
Sarah nickte. »Was ich über die Zuchthäuslerin weiß, habe ich von Lucy erfahren, meiner Bediensteten. Sie hatte sich auf der Reise mit der Frau angefreundet.«
»Es tut uns sehr Leid, dass Lucy ums Leben gekommen ist«, sagte Edna mitfühlend. »Man hatte uns mitgeteilt, dass du in Begleitung reist. Als du allein hier angekommen bist, haben wir gleich mit dem Schlimmsten gerechnet. Wir haben aber nichts gesagt, weil wir dich nicht unnötig aufregen wollten. Wir hielten es für besser zu warten, bis du von selbst darauf zu sprechen kommst.«
Sarah nickte bekümmert. Ihre Traurigkeit war echt. Obwohl sie Lucy nicht lange gekannt hatte, empfand sie ihren Tod als schmerzlichen Verlust. »Ich wollte, dass sie mit mir ins Rettungsboot kommt.« Sooft sie an das eigensüchtige Verhalten der echten Amelia dachte, packte sie die Wut. »Einer der Matrosen versprach, sie in Sicherheit zu bringen, aber sie hatten keine Chance. Das Heck des Schiffes sank, kurz nachdem das Rettungsboot abgelegt hatte.«
»Es tut mir schrecklich Leid, mein Kind.« Edna drückte ihr mitfühlend die Hand. Ihr Mündel hatte die Lippen fest zusammengepresst und durchlebte offenbar einen Sturm heftiger Gefühle. »Aber du kannst nichts dafür, dass Lucy es nicht geschafft hat. Ich bin sicher, du hast alles versucht, sie zu retten. Gib dir nicht die Schuld an ihrem Tod.«
»Das tue ich auch nicht«, entgegnete Sarah wahrheitsgemäß. Sie machte die echte Amelia dafür verantwortlich.
5
»Guten Morgen, Gabriel«, grüßte Evan. »War es eine lange Nacht?«
Gabriel war gerade vom Leuchtturm heruntergestiegen und auf dem Weg zu seinem Haus. Der Morgen dämmerte herauf, und es war windig. »Keine besonderen Vorkommnisse, Evan. So, wie ich es mag. Leistest du mir beim Frühstück Gesellschaft?«
»Eine Tasse Tee trink ich gern mit dir, aber dann muss ich zurück, falls meine Farmhelferin mir wieder das Haus abzufackeln versucht.«
Gabriel warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Ich dachte mir gleich, dass du etwas auf dem Herzen hast.«
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich zusätzliche Vorräte brauche, wenn das Versorgungsschiff das nächste Mal anlegt.«
Sie betraten das Haus. Gabriel schürte die schwache Glut im Herd, legte Holz nach und vergewisserte sich, dass Wasser im Kessel war. »Isst deine Hilfskraft dir die Haare vom Kopf?«, fragte er.
»Viel schlimmer. Wir kriegen überhaupt nichts mehr zu futtern. Gestern hat sie das Frühstück und das Abendessen anbrennen lassen. Wir können von Glück sagen, dass das Haus nicht in Flammen aufgegangen ist. Ich war draußen bei den Schafen. Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen, als ich den Rauch aus dem Haus aufsteigen sah.«
»Was ist denn passiert?«
»Ihre Ladyschaft hat offenbar ein Bad genommen und darüber den Eintopf vergessen, der über dem Feuer hing. Kannst du dir das vorstellen?«
Gabriel
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