Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
seelisch … Er geht dann von selber … Nach so einem Urteil. Die Gedanken gehn in seinem Kopf rund. Oder es heißt: »Die Geister kommen« – und schon gehts los im Kopf … Alpdrücken über Alpdrücken. Dann wird er krank. Und keiner heilt ihn. Ganz von selber. Psychisch. Vor dem Urteil wegen Diebstahl hatten alle Angst. Bei den Nenzen hat es nie Diebstahl gegeben früher.
Früher wurde auch Gorodki gespielt am Strand. Da hatte jeder seinen eigenen Stock, je nach Körperkraft. Bis vor kurzem noch … Mit der Trinkerei war halt dann Schluss. Jetzt prügeln sie sich … Das ist das Ende der Welt.
Das ist doch kein Menschenleben. Wie ich Vorarbeiter in der Sowchose war, 73, da hatten wir Geschirrriemen in Hülle und Fülle. Riemen aus Bartrobbenleder. Nach altem Geld von damals einen Rubel fünfzig. Und verkauft haben wir sie sogar rüber aufs Festland, an andre Sowchosen. Zugriemen, Leinen, Halfter – alles Bartrobbenlederriemen, und das ganze Geschirr mit Knöpfen, alle Gurte mit Knöpfen. Für den Menschen ist das angenehm und schön, das Ren scheuern sie nicht. Aber jetzt, hast du da nur ein schönes Geschirr gesehn? Oder wenigstens einen guten Chorej? Aus Kiefer und mit einer beinernen Spitze am Ende und solide, damit du im Herbst testen kannst, ob das Eis hält? Heute ist das ganze Geschirr aus lauter Seilen gemacht. Und die Schlitten ja genauso – überall Seile, würden gar nicht mehr halten bestimmt, ohne Seile. So weit ist es gekommen, bis zum Seil, zum Plastik. Früher wurde ein Mensch nach seinem Gespann beurteilt. Wenns ans Heiraten ging, wurde auf den Schlitten geschaut. Ob die Knöpfe aus Walrossknochen sind und der Schlitten neu und schön. Die Männer hatten Schellen dran, die Frauen Glöckchen.
Die Lieder
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Ich kenn viele Lieder, Trinklieder, die gesungen werden, wenn man sein Leben beweint oder sich freut. Wer sein Leben beweint, der trinkt … Meistens wird eigentlich in allen immer dem gelebten Leben nachgeweint … Dem, was war … Den ganzen Abenteuern – das wird alles im Lied erzählt.
Unsere epischen Lieder sind sehr lang. Füllen ein ganzes Buch. Zehn Seiten vielleicht. Oder zwanzig. Also, nicht Seiten, Bögen, zwanzig Bögen. Ich hab mir
Die epischen Lieder der Nenzen
angesehen. Ein ganzes Buch. Sooo dick. Hast du gesehen bestimmt, oder? Aber du musst das Motiv kennen. Jedes Lied hat ja sein ganz eigenes Motiv. Und dann noch wie einer singt … Jedesmal ist das Motiv dann ganz unterschiedlich … Und unsere Erzählungen sind auch lang. Und wer seine Erzählung singt, der singt sie unbedingt auch immer ganz.
Woher ich so viel Lieder kenne? Ich war viel zu Hause, mit dem Großvater. Er war krank, ich war krank. Krankenjahre hatten wir beide fast gleich viel auf dem Buckel. Er war krank und alt, ging lang nirgendwo hin – da hat er mir eine Menge Märchen erzählt …
In jungen Jahren war der Großvater kerngesund, aber wie er starb (im zweiundachtzigsten Jahr), da war er sooo ein kleines Männchen … Von ihm hab ich bestimmt noch nicht erzählt? Er ist diesem Engländer begegnet. Die waren irgendwo im Osten oder Norden ausgebootet worden, dann haben sie bei Antip gelebt, das gefiel ihnen nicht, und da sind sie den Urgroßvater besuchen gefahren, da hats ihnen gefallen, und sie sind bei ihnen eingezogen, bis dass sie geholt wurden … Haben die ganze Zeit bei ihnen gelebt. Die Geschichte hat mir der Großvater ganz erzählt. Er war ein Geschichtenerzähler. Und die Mutter, die hat auch gesungen … Es gibt Lieder, die beruhigen, auch einen selber, damit tröstest du ein Kind, oder du denkst selber was und singst still für dich, um dich selber zu beruhigen.
Ich hab mal im Klub gesungen, da war ich immer der Beste … Trocken sing ich natürlich nicht, nur betrunken … So vergisst du. Wenn du was tust, singst du auch. Singst leise auf Russisch oder Nenzisch vor dich hin. Früher haben sich die Betrunkenen nicht gestritten. Selten gestritten. Man hat sich hingesetzt, hat sich unterhalten und gesungen … Erst unterhalten und dann hat wer zu singen angefangen … Erst betrinkst du dich ordentlich, und dann fängst du zu singen an …
(Grigori Iwanowitsch spricht über dies und das, dass es lange Lieder gibt und kurze und viel Zotiges; »ich bräuchte ausschließlich zotige Lieder singen«, sagt er, »und bekäme eine ganze Schallplatte damit voll.« Doch zuletzt hüstelt er, senkt den Kopf, schließt beinah ganz die Augen und stimmt ein tieftrauriges monotones Klagelied
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