Die Intrige
kopfschüttelnd. »Es lag nicht nur daran. Es war auch … wir haben einfach dazugehört. Jeder hatte einen Platz, wo er hingehörte.« Er klang plötzlich heiser. »Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber ich wollte, dass meine Familie stolz auf mich ist. Es ist anders als im einundzwanzigsten Jahrhundert, wo Mom und Dad … äh … ihr wisst schon. Es war immer so, als hätte ihr Leben mit meinem überhaupt nichts zu tun. Und mein Leben nichts mit ihrem.«
Jonas kannte Chips Eltern nicht sehr gut. Aber er wusste, dass sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, ihm zu sagen, dass sie ihn adoptiert hatten. Bis er schließlich von selbst darauf gekommen war.
»Immerhin hat im einundzwanzigsten Jahrhundert niemand versucht dich umzubringen, Chip«, wandte Jonas ein.
»HK hat es getan, indem er mich zurückgeschickt hat«, erwiderte Chip.
»HK stammt nicht aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert«, sagte Jonas. »Er kommt aus der Zukunft.«
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Alex und drückte wieder sinnlos auf dem Definator herum. »Wir können so oder so nichts beeinflussen.«
»Auf jeden Fall werden wir die Königin davon überzeugen,dass ihr tot seid«, blieb Katherine stur. »Und dann gehen wir nach Hause.«
Nach Hause, dachte Jonas sehnsüchtig. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie schwierig es werden könnte, dorthin zurückzukehren.
»Glaubt ihr, dass es draußen schon dunkel ist?«, fragte er.
»Ich sehe nach«, bot Alex an.
»Nein. Wir gehen alle zusammen«, verlangte Katherine.
Niemand widersprach ihr.
Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt, als sie die unsichtbaren Köpfe aus einer Seitentür der Kathedrale streckten, trotzdem beschlossen sie, dass es dunkel genug war. Das Krönungspublikum hatte sich verlaufen.
»Ich wette, die sitzen jetzt alle beim Festmahl«, sagte Chip verbittert. »Und schlagen sich die Bäuche mit dem Essen voll, das für
meine
Krönung bestellt wurde.«
Jonas wollte lieber nicht ans Essen denken.
Mach deinen Geisterbesuch bei der Königin, sagte er sich. Und dann geh nach Hause. Das klang mehr nach einem Gebet als nach einem Plan. Bitte mach, dass es funktioniert und dass es so einfach ist.
»Äh«, sagte er, als ihm ein neuer Gedanke kam. »Die Königin ist doch nicht etwa auf einem Schloss, das fünf Tagesreisen entfernt liegt, oder?«
»Nö«, sagte Alex. »Sie ist gleich dort drüben.«
Er zeigte auf ein fast quadratisch aussehendes Gebäude aus Stein, das mehr Ähnlichkeit mit einer Festung als mit einem Schloss hatte. Es lag nur einen Katzensprung von der Tür der Kathedrale entfernt.
»Sie war während der ganzen Krönungszeremonie dort drüben?«, fragte Katherine entsetzt. »Direkt in Hörweite, als alle riefen … hat König Richard das gewusst?«
»Ja, sicher«, sagte Alex grimmig. »Er wusste es.«
»Aber … warum?«, fragte Katherine. »Warum ist sie nicht woandershin gegangen? Zumindest für diesen einen Tag …«
»Weil sie sich in den Schutz des Heiligtums begeben hat«, antwortete Chip.
»Ich dachte, die Krönung hätte im Heiligtum stattgefunden?«, wunderte sich Jonas.
»Nein, nein«, sagte Alex. »Nicht
das
Heiligtum. Sie hat sich in den Schutz der Kirche begeben und genießt politisches Asyl. Nachdem Gloucester, also Richard, ihren Bruder verhaften ließ und die Macht übernahm, ist sie in die Abtei gezogen, wo sie in Sicherheit war und er sie nicht verhaften konnte.«
»Aber … sie ist doch seine Schwägerin«, wandte Jonas ein. »Oder etwa nicht?«
»Na und?«, sagte Chip.
Jonas kam zu dem Schluss, dass ihm Chips mittelalterliche Familie kein bisschen besser gefiel als seine moderne.
»Das ergibt doch keinen Sinn«, konterte Katherine.»Warum sollte ihr Aufenthalt in diesem Gebäude jemanden davon abhalten, sie zu verhaften?«
»Weil es sich auf heiligem Boden befindet«, erklärte Chip. »Es gehört der Kirche. Und selbst der König hat sich der Autorität der Kirche zu beugen.«
»Und was ist mit der Trennung von Staat und Kirche?«, wollte Jonas einwenden, als ihm einfiel, dass das eine wirklich dumme Frage gewesen wäre. Schließlich war das hier nicht Amerika und auch nicht das einundzwanzigste Jahrhundert.
»Ich habe dort bei ihr gewohnt«, erzählte Alex leise. »Bis Gloucester kam und wollte, dass ich bei Chip bin, wenn er gekrönt wird.«
»Und mit diesem Trick hat er sie überredet, dich gehen zu lassen?«, fragte Jonas.
Alex schüttelte bedächtig den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Sie ist sehr
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