Die IQ-Kids und die geklaute Intelligenz (German Edition)
erkennen, dass es Dr. Guðgeirs Assistentin war – wie hieß die noch mal? Raggi sah, wie sie sich stirnrunzelnd umschaute. Scheinbar merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Ihr Gesicht versteinerte sich, und Raggi sah, wie sie auf den Glaskasten mit den Gummihandschuhen zuging. Er hörte, wie sie „seltsam“ murmelte und dann mit schnellen Schritten zu dem Kasten ging und durch das Mikroskop schaute. Dann stieß sie einen Schrei aus.
„Oh Gott!“, dachte Raggi. Das Glibberzeug auf dem Glasteller war anscheinend wichtig gewesen. „Verdammt!“, murmelte er ganz leise, so leise, dass sie ihn auch nicht gehört hätte, wenn sie sich zu ihm in den Schrank gequetscht hätte. Raggi versuchte zu sehen, was weiter geschah.
Die Frau holte ihr Handy heraus. Raggi hörte sie murmeln: „Gehen Sie schon ran … gehen Sie ran …“ Dann seufzte sie, nuschelte etwas, das sich so anhörte wie „oh nein, nicht die Mailbox“ und sagte kurz darauf laut und deutlich: „Guðgeir, die Zelltraube ist weg. Wo sind Sie?“ Zu Raggis großer Erleichterung steckte sie ihr Handy wieder in die Tasche und stürzte zur Tür. Auf dem Weg nach draußen stieß sie einen weiteren Schrei aus, und Raggi nahm an, dass ihr Blick auf die leeren Glasschälchen gefallen war, deren Inhalt versehentlich im Staubsauger gelandet war. Er schluckte – das hatte er sich bisher nicht getraut, aus Angst, sie könnte ihn hören. Als Raggi die Tür ins Schloss fallen hörte, spähte er vorsichtig aus dem Schrank, und als er sah, dass die Luft rein war, rannte er zur Tür. Er stürzte hinaus, und als er im Flur schnelle Schritte näherkommen hörte, rannte er nicht weg, sondern tat so, als schaue er sich das Plakat mit dem Frauenmarathon an. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn man ihn vom Tatort wegspurten sähe.
Raggi versuchte, ganz normal zu wirken, und las in aller Ruhe den Text, obwohl ihm das Herz bis in den Hals schlug. Er hatte erst ein paar Worte gelesen, als Dr. Guðgeir und seine Assistentin um die Ecke gelaufen kamen. „Ich habe doch gesagt, sie ist weg“, sagte die Frau, die völlig aufgelöst wirkte. „Glauben Sie etwa, ich kann eine leere Schale nicht von einer vollen Schale unterscheiden?“
Dr. Guðgeir sah furchtbar wütend aus. „Wie zum Teufel kann das passieren? Da kommt doch niemand rein. Oder haben Sie das aus Versehen gemacht?“
Raggi hatte den Eindruck, die Frau würde Dr. Guðgeir gleich eine Ohrfeige versetzen, doch sie sagte nur ganz ironisch: „Ja, klar …“ Als sie Raggi erblickte, verstummte sie. Die beiden waren so aufgeregt, dass sie ihn fast übersehen hätten. „Du!“, sagte sie laut. „Was machst du hier?“
„Ich will aufs Klo“, sagte Raggi und schaffte es einigermaßen, die Nervosität in seiner Stimme zu überspielen. „Da habe ich das Plakat da gesehen. Das ist wirklich interessant. Sie wissen schon, Frauen, die Marathon laufen, Frauenpower und so. Das unterstütze ich.“ Raggi dachte schon, er hätte übertrieben, aber die beiden schienen es nicht zu bemerken.
„Mach jetzt, dass du wegkommst“, sagte Dr. Guðgeir barsch. Das ließ sich Raggi nicht zweimal sagen. Er drehte sich um und ging weiter. Am liebsten wäre er gerannt, wollte sich aber nicht anmerken lassen, wie angespannt er war. Er hörte Dr. Guðgeir zu der Frau sagen: „Diese schrecklichen Blagen.“
Raggi spitzte die Ohren, als die Frau entgegnete: „Sie müssen sie noch eine Weile ertragen. Denken Sie an das Geld.“
Das wurde ja immer merkwürdiger. „Na, wenn ihr Geld von mir haben wollt, dann viel Glück“, murmelte Raggi. „Ich hab noch nicht mal Geld für eine Busfahrkarte, geschweige denn für sonst was.“ Er schaute auf die Uhr und sah, dass er fast zwanzig Minuten weggewesen war. Hoffentlich würde Magga nicht misstrauisch werden. Er nahm sich vor, sich morgen einundzwanzig Minuten lang wie ein Engel zu benehmen, dann bekäme Magga eine Minute als Entschädigung. Raggi überlegte, ob er die Zeit sogar verdoppeln und sich vierzig Minuten lang gut benehmen sollte, kam aber wieder davon ab. Schließlich war er nicht vom Pizzaservice – eine zahlen, eine umsonst. Zwanzig Minuten genügten. Er konnte sogar noch fünf Minuten abziehen, da er, während er durch den Flur gegangen war und das Plakat gelesen hatte, nichts angestellt hatte. Ja, fünfzehn Minuten waren mehr als genug.
Raggi klopfte auf seine Hosentasche, um zu kontrollieren, ob er das Blatt mit den Notizen mitgenommen hatte. Es war noch
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