Die irische Meerjungfrau
Geräusche herauszufiltern, aber außer dem langgezogenen Schreien einer Möwe fiel ihm nichts auf.
Doch da – Schritte. Schwere Schritte. Direkt hinter ihm.
Er fuhr herum.
Das weiße Pferd trottete auf ihn zu, die Ohren neugierig nach vorne gerichtet. Je näher es kam, desto riesiger erschien es. Kein edles Ross, ein großes grobknochiges Tier, die Mähne struppig, das Fell zottig gegen die Winterkälte.
Fin war das alles andere als geheuer. Mit aufkommender Übelkeit erinnerte er sich an die nächtliche Begegnung mit dem weißen Riesen. Abwehrend fuchtelte er mit den Händen, als könne er das Pferd verscheuchen wie eine lästige Fliege.
Der Schimmel blieb tatsächlich stehen. Wandte den Kopf und beäugte ihn skeptisch, als müsse er diesen sonderbaren Zweibeiner genauer unter die Lupe nehmen. Die Ohren zuckten hin und her, er schüttelte unwillig den Kopf und schnaubte einmal kräftig, als müsse er einen unangenehmen Geruch loswerden. Fin bewegte sich langsam rückwärts, behielt den vermeintlichen Feind im Auge. Aber der Schimmel verlor rasch das Interesse, blähte nur einmal kurz die Nüstern und widmete sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Grasen.
Es war eine Treppe. Unscheinbar. Etwas, das niemand gefunden hätte, der nicht danach suchte. Eigentlich waren es nur ein paar schiefe Stufen, wohl vor Jahrzehnten provisorisch in die Felswand geschlagen, die zum Wasser hinunter führten. Schmale, steile, hohe Stufen.
Fin wurde schwindelig. Er kniff kurz die Augen zusammen, aber es wurde nicht besser. Etwa dreißig Meter weiter unten klatschten die Wellen schäumend gegen den schwarzen Felsen. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, die Grippetabletten mit Whisky hinunterzuspülen. Vorsichtig tat er einen ersten Schritt. Hielt sich an knorrigem Kraut fest, das sich ebenso entschlossen an den Stein klammerte wie er sich an seine Wurzeln. Trotzte dem Wind. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe tastete er sich voran.
Am Fuß der Treppe angekommen hielt er sich dicht an die Felswand, um nicht nass zu werden, aber es nützte wenig. Immer wieder schlugen Wellen hoch, Gischt spritzte auf und regnete auf ihn nieder. Er schmeckte Salzwasser auf seinen Lippen. Zum ersten Mal war er froh um seine wasserdichte Jacke.
Die Uferbefestigung aus Mauersteinen war alt, erbaut zur selben Zeit wie der Leuchtturm. Zwischenzeitlich mit Beton geflickt, der seinerseits unter den Jahren und den Gezeiten gelitten hatte. Algengrüne Pfützen füllten die Unebenheiten und machten den Untergrund glitschig.
Fin schauderte, als er die nächste kalte Dusche abbekam.
Ein paar Schritte weiter klaffte ein schwarzes Loch im Felsen, gerade groß genug, um einen erwachsenen Menschen durchzulassen. Es war eine natürliche Öffnung, möglicherweise der Eingang zu einer Höhle. Fin spähte hinein, fragte sich, wie weit sie wohl in den Fels hineinreichte, ob sie groß genug war, um sich darin zu verstecken. Er verspürte einen kalten Luftzug, untrügliches Zeichen dafür, dass die Höhle irgendwo wenigstens noch einen weiteren Zugang hatte.
Doch nirgends eine Spur von Charlotte. Vielleicht war sie doch eine Meerjungfrau.
Fin hielt inne. Ein Geräusch, alles andere als natürlichen Ursprungs, tauchte zwischen den rauschenden Wellenbergen auf. Das Tuckern eines Dieselmotors.
Er spähte in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete, aber die Klippen versperrten ihm die Sicht. Er beeilte sich, balancierte über die glatten Steine und erreichte den Felsvorsprung in dem Augenblick, als sich ein kleines Boot mit Außenbordmotor schaukelnd durch die Brandung schob und sich mühsam in ruhigere Gewässer vorankämpfte. Zwei Personen waren an Bord, keine von beiden rothaarig. Zwei Männer, aber sicher war sich Fin nicht, sie waren schon zu weit weg. Das Boot nahm Kurs nach Norden und verschwand im Schatten der Insel.
Er entdeckte einen Anleger, eine marode Helling, von der aus in früheren Zeiten wahrscheinlich Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden. Armdicke Taue hingen achtlos ins Wasser, von grasgrünem Tang überwuchert. Ein Klumpen nasser Netze lag in einer Ecke neben allerlei rostigen Gerätschaften und verbeulten Benzinkanistern. Mitten in dem kleinen natürlichen Hafenbecken tanzte nutzlos eine ausgediente Boje, das verblasste Orange mit Möwenscheiße überkrustet.
Auch hier keine Spur von Charlotte. Aber Fin war sich sicher, dass sie irgendwo hier unten sein musste.
Hinter dem Anleger öffnete sich eine weitere
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