Die irische Meerjungfrau
Höhle in der Felswand, der Zugang größer als bei der ersten. Fin vermutete, dass die Höhlen untereinander verbunden waren wie ein Kaninchenbau. Ein Labyrinth aus Gängen und Fluchtwegen, seit Jahrhunderten der perfekte Unterschlupf für Schmuggler.
Nasse, schmierige Stufen führten von der Helling in die Höhle hinunter. Fin zögerte. Er verspürte wenig Lust, das dunkle Loch zu erkunden. Was sollte er dort finden? Ganz sicher war es kein Ort, wo man einen Van Gogh lagerte.
Vorsichtig stieg er die Stufen hinunter. Die durchnässten Jeans klebten an seinen Beinen. Er konnte kaum fünf Meter weit sehen. Es war nahezu unmöglich abzuschätzen, wie tief die Höhle reichte. Im schwächer werdenden Tageslicht glänzten feuchte Felswände. Am Ende der Stufen tastete er sich über den unebenen Boden. Er fühlte weichen Sand unter seinen Schuhen. Muscheln und Kiesel knirschten. Irgendwo rauschte das Meer herein, irrte auf der Suche nach einem Ausweg in der Finsternis umher und schwappte wieder nach draußen. Wasser tropfte von der Decke herab.
Fin blieb stehen und schüttelte sich. Von allen Seiten schien es auf ihn einzustürmen. Das Gurgeln der Wellen. Das Heulen des Windes. Und ein anderes Geräusch. Ein leiser Singsang, der ihm aus der Tiefe der Höhle entgegenwehte.
Er blinzelte. Aber da war nichts. Nur nachtschwarze Finsternis.
Und doch …
Das Geräusch wurde lauter. Ein wehmütiger Gesang, der von den kahlen Wänden widerhallte. Ein vielstimmiger Chor von Sirenen auf der Suche nach einem Seemann, den sie in die Tiefe locken konnten …
Eine Welle spülte über seine Füße. Er sprang zurück. Das Wasser war eisig. Er fuhr herum. Wollte nur noch raus hier. Verwirrt spähte er in die Dunkelheit, die ihn umgab.
Wo war der Ausgang? Von wo war er gekommen?
Er drehte sich um die eigene Achse.
Er war völlig blind.
Hilflos.
Er zitterte.
Er war hier reingekommen, zum Teufel, also kam er auch wieder raus!
Er tat einen Schritt und landete im Wasser. Um ihn herum brauste das Meer, klatschten Wellen gegen Steine, saugten Strudel den Sand unter seinen Füßen weg. Und dazwischen diese geheimnisvolle Stimme. Als ob jemand nach ihm rief …
»Finbaaaaaar …«
Er geriet in Panik. Er wollte raus hier!
»Finbaaaaaar …«
Die langgezogene Stimme seiner Mutter. Die vorwurfsvolle Stimme von Susan. Irgendeine rätselhafte Stimme.
»Finbaaaaaar …«
Plötzlich spürte er, wie ihn jemand am Arm packte.
»Finbar! Was machst du hier?« Er erkannte Charlottes Stimme. Irgendwo neben sich in der Dunkelheit.
Er wollte sie abschütteln, aber ihr Griff war eisern. Ihr Zerren unerbittlich. Erbarmungslos wie eine Meerjungfrau, die ihr Opfer gefunden hatte und um keinen Preis loslassen wollte. Die ihn unweigerlich in die Tiefe ziehen würde. Widerstand zwecklos.
»Das ist gefährlich!« Sie musste gegen das Rauschen der Wellen anbrüllen. »Die Flut kommt! Lass uns von hier verschwinden!«
Er gab nach. Und sie zog ihn mit sich. Völlig benommen tappte er hinter ihr drein.
Draußen vor der Höhle hatte sich die Dämmerung breitgemacht. Die Sonne war hinterm Horizont verschwunden, vom Meer her trieben dünne Nebelschwaden in die Bucht.
»Was hast du hier unten gewollt?«, fragte sie ehrlich erstaunt. Sie trug den langen schwarzen Regenmantel, den er schon ein paar Mal an ihr gesehen hatte, darunter einen dunklen Troyer und Jeans. Und Gummistiefel. »Ich dachte, du wärst längst wieder im Dorf.«
Fin antwortete nicht. Er konnte nicht. Er wollte nicht, dass sie merkte, wie seine Zähne klapperten. Außerdem – was hätte er ihr sagen sollen? Dass er ihr nachspionierte? Er hatte selber genug Fragen, die er gern von ihr beantwortet hätte. Was sie hier unten getrieben hatte. Wer die zwei Typen auf dem Boot waren. Und vor allem – woher sie seinen Namen wusste.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell so ne Höhle mit Wasser vollläuft.«
Doch. Konnte er. Spätestens seit eben.
»Ich … ich dachte, ich hätte da … ähm, Seehunde gesehen.« Das Boot erwähnte er besser nicht.
»Seehunde? In der Höhle?« Sie schüttelte nur verständnislos den Kopf und wandte sich zum Gehen.
Er nieste und folgte ihr. Der Kopfschmerz hämmerte gegen seinen Schädel. Er fuhr sich über seine nasse Stirn. Kein Meerwasser. Kalter Schweiß.
»Kommt aus der Großstadt und glaubt, er weiß Bescheid«, murmelte sie vor sich hin. Gerade laut genug, dass Fin es hören konnte.
Sie stieg vor ihm die Treppenstufen
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