Die irische Meerjungfrau
stolperte über hartgefrorene Grasbüschel, griff dann und wann in eine Brombeerranke und suchte Halt an der Mauer, was nicht einfach war, wenn man in einer Hand eine kostbare Whiskyflasche hielt. Ein paar aufgescheuchte Schafe meckerten erbost über die nächtliche Ruhestörung und zockelten davon. Fin fragte sich, ob die Viecher bei Nacht besser sehen konnten als er.
Die Mauer verfiel zusehends und endete irgendwann in einer morastigen Wiese. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Aber dieser Platz war so gut wie jeder andere. Er hatte Meerblick, soweit Fin das in der Finsternis beurteilen konnte. Sehen konnte er den Atlantik zwar nicht, er hörte nur das eintönige, einschläfernde Heranrollen der Wellen, die sich irgendwo unterhalb von ihm an Stränden und Klippen austobten. Weit draußen am Horizont trennte ein blasses Zwielicht das Meer vom Himmel. Ein paar Findlinge lagen herum, groß genug, um sich draufzusetzen. Fin suchte sich den bequemsten aus, inspizierte ihn argwöhnisch, ob nicht vielleicht ein Kobold draufhockte, setzte sich hin und die Flasche an den Mund. Knapp die Hälfte des Whiskys hatte er schon niedergemacht, aber von der erlösenden Wirkung schien er noch meilenweit entfernt.
»Ist sie dir davongeschwommen?«
Er spuckte den letzten Schluck Whisky aus und hustete. »Wa–?»
»Wenn die Meerjungfrau zu lange an Land war und keinen Prinzen abgekriegt hat, dann muss sie wieder ins Meer zurück.«
Es dauerte einen Augenblick, bis er Nora Nichols’ raue Stimme wiedererkannte. Er schaute sich in der Dunkelheit um. Tatsächlich, dort mitten auf der Wiese leuchteten ihre Lockenkringel aus dem Nichts.
Fin starrte seine Flasche an, dann Nora, als wäre sie eine hochprozentige Erscheinung. Er musste das jetzt nicht verstehen. Nicht mitten in der Nacht.
»Is irgendwo ne Koboldparty?« Er musterte die unförmig eingepackte Alte von ihrem dicken Schal bis zu seinen abhandengekommenen Schuhen.
»Nee, muss zu Aislin MacNally«, sie kam näher, die Hände tief in den Taschen einer schlafsackähnlichen Daunenjacke versteckt, »sie hat ein geheimes Rezept für Algenplätzchen. Du musst die Algen nämlich bei Neumond –«
»Neue Schuhe?«
Nora betrachtete ihre Füße. »Hat mir Festus geschenkt.«
»Festus?«
»Festus Gomball, Duffy Ältester. Der hat sie von Diarmuid. Sind ’n bisschen zu groß, aber ich trag halt zwei Paar Socken, dann passts.«
Fin schnaubte.
Vielleicht gingen Feen ja mit der Zeit, schließlich waren auch Meerjungfrauen nicht mehr das, was sie in anständigen Märchen mal waren. Die Kobolde waren über die Jahrhunderte nur allzu menschlich geworden, trugen heute wahrscheinlich Jeans und blaue Haare.
»Aislin hat mir erzählt, diese Meerjungfrau …«
»Sie ist keine Frau!«, blaffte Fin. Seine Nase lief. Er hatte kein Taschentuch. Musste halt der Ärmel seiner Jacke herhalten.
»Natürlich ist sie keine richtige Frau. Meerjungfrauen werden aus dem Schaum der Wellen geboren und –«
»Sie ist ein Mann.«
»Ein Mann?«
»Ein Kerl, ja.« Er machte bereitwillig Platz, so dass Nora sich zu ihm auf den Stein setzen konnte.
»Soso. Ein Kerl.«
»Nein. Eigentlich ist sie auch kein Kerl.« Er redete Blödsinn.
Nora äugte nach der Whiskyflasche, die Fin in der anderen Hand hielt. »Ja, was ist sie denn nun?«
Er seufzte und reichte ihr wortlos die Flasche. Nora leckte sich die runzligen Lippen und gönnte sich einen großzügigen Schluck. Nachdenklich musterte sie ihn von der Seite. »Hast du denn nicht mit ihr … ich meine, bist du denn nicht mit ihm … nein, also ihr habt doch bestimmt miteinander, na, du weißt schon … Oder?«
Fin wand sich. »Ja, … schon …«
»Na also.«
»Nix na also.«
»Das verstehe ich jetzt nicht.« Zur Klärung musste ein weiterer Schluck Whisky beitragen.
»Ich hab ja auch bis eben geglaubt, dass sie eine Frau ist, aber …«
Die Alte machte eine wegwerfende Geste mit der Linken, während die Rechte eisern die Flasche umklammerte. »So sind sie, die Meerjungfrauen! Voller Heimtücke und Bosheit! Gaukeln dir was vor, nur um dich rumzukriegen! Hatte ich dich nicht gewarnt?« Ihre hellen Augen leuchteten im Dunkeln. »Du musst aufpassen, sonst ergehts dir wie meinem armen Joey. Der hat sich auch von so ner Rothaarigen einwickeln lassen. Du darfst halt nicht glauben, was du siehst, dann kann dir gar nichts passieren! Hör auf deinen Verstand! Nicht auf dein Gefühl!«
Leicht gesagt. Was hatte das alles bitte schön mit Verstand zu
Weitere Kostenlose Bücher