Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
echt“, führte Verhoeven den Gedankengang weiter, „denken Sie, dass die beiden Mädchen allein durch den Wald gestreift und dort zufällig einer dritten Person begegnet sind, die Edda entführte oder tötete und Lilli laufen ließ?“
„Nicht unbedingt zufällig“, entgegnete Winnie nach kurzem Überlegen. „Vielleicht hat diese Person beobachtet, wie die Kinder im Wald verschwanden, und fasste den Entschluss, ihnen zu folgen. Oder aber sie wusste von Lillis und Eddas Plan mit dem Nöck.“
„Und dann?“ Die Augen ihres Vorgesetzten wanderten ziellos über den verkramten Schreibtisch. „Ist Lilli davongerannt, als Edda angegriffen wurde?“
Winnie dachte auch hierüber kurz nach. „Theoretisch könnten sich die Mädchen zu diesem Zeitpunkt auch schon wieder getrennt haben“, schlug sie vor. „Wenn ich Rosemarie Wilnowski recht verstanden habe, hat sich Lilli an dem besagten Morgen schon sehr früh in der Nähe des Benderhauses herumgedrückt.“ Sie stand auf und trat an die Karte, die noch immer an der Wand hing. „Von dort ist es nicht weit bis zur Grillhütte. Und von der Hütte wiederum habe ich eine knappe halbe Stunde bis zum Weiher gebraucht.“
„Falls Edda und Lilli damals überhaupt bis zum Weiher gekommen sind.“
„Klar.“
Er sah sie an. „Wären Sie als Kind weggelaufen, wenn eine Freundin von Ihnen in Ihrem Beisein überfallen wird?“
„Vielleicht ist Edda gar nicht überfallen worden“, wandte sie ein. „Wie gesagt, könnten die Mädchen ja auch einfach jemanden getroffen haben.“
„Sie meinen jemand , den sie kannten?“
Sie nickte. „Vielleicht hat die betreffende Person gesagt, Edda solle mit ihr gehen, und Lilli hat sich nichts dabei gedacht, bis sie ein paar Stunden später hörte, dass Edda nicht nach Hause gekommen ist.“
„Und warum ist Lilli dann nicht geradewegs zur Polizei gegangen und hat den Kollegen von ihrem Ausflug und dieser Begegnung – so sie denn stattgefunden hat – berichtet?“, stellte Verhoeven einmal mehr die Frage, über die sie immer wieder stolperten.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, stöhnte Winnie. „Aber es muss ein guter Grund gewesen sein, wenn man bedenkt, wie sehr sie die Sache belastet hat.“ Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und verschränkte die Hände im Nacken. „Rosemarie Wilnowski hat gesagt, dass Lilli nach Eddas Verschwinden ständig an ihr klebte und wissen wollte, wie sie sich fühlt und so.“
„Sie halten das für Anzeichen eines schlechten Gewissens?“
„Was sonst?“
„Neugier?“
Sie nahm sich einen Moment, um diese Möglichkeit zu erwägen. „Glaube ich nicht“, sagte sie dann. „Aber vielleicht gibt es noch eine andere Erklärung für Lillis Schweigen.“
„Die da wäre?“
„Dr. Frescobaldi sagte, dass sie wegen dissoziativer Persönlichkeitsstörungen behandelt wurde. Und dazu zählen auch Gedächtnislücken …“
Verhoeven machte ein zweifelndes Gesicht. „Sie glauben, Lilli konnte sich schlicht und ergreifend nicht mehr erinnern, was an jenem Morgen im Wald geschehen ist?“
Winnie zuckte die Achseln. „Immerhin war sie ein tief traumatisierter Mensch“, entgegnete sie. „Da ist es sehr wahrscheinlich, dass sie gewisse Mechanismen entwickelte, um die belastende Erinnerung auszublenden. Nehmen Sie nur mal ihre Aufzeichnungen. Da wimmelt es doch nur so von Lücken, oder?“
Er gab ein zustimmendes Brummen von sich.
„Außerdem bringt sie alles Mögliche durcheinander.“ Sie knüllte die leere Brötchentüte zusammen und warf sie in Richtung Papierkorb, doch das Papierknäuel landete rund einen halben Meter neben dem angepeilten Ziel. „Sie wusste rückblickend nicht einmal mehr, dass sie selbst es war, die in der Psychiatrie landete. Und nicht ihre Schwester …“
„Jammerschade, dass der Arzt, der sie damals behandelt hat, nicht mehr lebt“, seufzte Verhoeven, als sich sein Handy meldete.
Während er telefonierte, nahm sich Winnie ein Glas Leitungswasser aus dem Kran über der Spüle. Sie fühlte sich benommen von der vielen Sonne, die sie auf ihrer Wanderung abbekommen hatte. Auf der Stirn und seitlich der Nasenflügel war die Haut bereits krebsrot. Winnie betastete die Stellen, die unangenehm spannten, und merkte, wie ihre innere Anspannung mit jeder Minute, die verstrich, größer wurde. Sie konnte sie es kaum erwarten, was Lübkes Leute bei Lilli Dahls Rittersporn zutage fördern würden. Ob sie etwas zutage fördern würden. Doch nach den vielen Pleiten
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