Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Verletzungen stammt aus der Zeit, in der Ihre Schwester noch ein Kind war.“
Verhoeven beobachtete Yvonne Paland und versuchte, in ihren Augen zu lesen, was sie empfand. Ob sie etwas empfand.
„Sie waren einige Jahre älter als Lilli“, fuhr seine Partnerin fort, und von jetzt auf gleich war ihr Ton auf einmal doch aggressiv. „Also erzählen Sie mir nicht, dass Sie keine Ahnung haben, wovon ich spreche.“
Yvonne Paland starrte auf die Tischkante. „Ich habe …“
„Was?“
„Ehrlich, ich weiß nichts darüber. Nur, dass sie oft hinfiel.“
„Was soll das heißen, sie fiel hin?“ , mischte sich nun auch Verhoeven wieder ein. Und erschreckt stellte er fest, dass er wütend war.
„Keine Ahnung, ich war nie dabei.“
„Sie meinen, Sie waren nie dabei, wenn Ihr Vater Ihre Schwester misshandelt hat?“ Die Wut überflutete ihn wie eine turmhohe Welle, die über ihm zusammenschlug. Wegsehen und Totschweigen, dachte er angeekelt. Überall und zu allen Zeiten dieselben Mechanismen …
Er fühlte Winnie Hellers p rüfenden Blick auf seiner Haut und dachte, dass er sich unbedingt besser in Acht nehmen musste. Nicht auf die Uhr sehen. Keinen Ärger zeigen. Sachlich bleiben.
Yvonne Palands Miene hingegen spiegelte grenzenlose Überraschung. „Sie denken, dass mein Vater …?“ Jetzt lachte sie plötzlich. Ein hohes, aufgesetztes Lachen, hysterisch beinahe. Und sehr verloren. „Mein Vater ist ein desinteressierter, selbstsüchtiger Trottel“, sagte sie, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. „Aber das ist auch das einzige, was Sie ihm vorwerfen können.“
Neben ihm knallte Winnie Heller den Kugelschreiber, mit dem sie sich Notizen gemacht hatte, auf die blitzsaubere Tischplatte. „Und warum hat Ihre Mutter Ihnen und Ihren Schwestern verboten, Röcke zu tragen?“
Lilli Dahls Schwester wandte sich ihr zu. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„ Stimmt es denn nicht, dass Sie als Kinder wie Jungs herumlaufen mussten?“
Anstelle einer Antwort stand Yvonne Paland auf und ging aus dem Zimmer.
Gleich darauf konnten sie sie im Nebenraum hören: Etwas klapperte. Dann wurde eine Tür geschlossen. Gleich darauf kehrte Lilli Dahls Schwester mit einer flachen Holzkiste zurück. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und entnahm der Kiste einen Stapel Fotografien, die meisten davon in Schwarzweiß.
„Hier bin ich bei einem Schulausflug. Und das hier zeigt mich mit meiner Lieblingskatze.“ Sie legte die entsprechenden Aufnahmen vor die beiden Kommissare auf den Tisch, während sie sprach. „Dieses wurde an meinem vierten Geburtstag aufgenommen und das da im Urlaub im Schwarzwald. Und hier schaukele ich auf dem Spielplatz hinter der Kirche.“ Ihr Blick bekam etwas Herausforderndes. „Genügt Ihnen das?“
Verhoevens Augen hefteten sich an das farblose Kindergesicht. Ein dickliches Mädchen im Faltenrock, im geblümten Sommerkleid, mit Trägerrock und in einer Art Phantasiedirndl. Sie sagt nicht alles, dachte er, entgegen aller Vernunft. Sie hält etwas zurück. Etwas, das wichtig ist. Etwas, das wir wissen müssen.
„Genügt Ihnen das?“, wiederholte Yvonne Paland mit ungewohnt eindringlichem Blick.
„Was Sie betrifft, ja“, antwortete Winnie Heller ungerührt. „Aber Lilli durfte trotzdem keine Röcke tragen, nicht wahr?“
Die Frau auf der anderen Seite des Tisches machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was weiß denn ich. Das ist doch alles eine Ewigkeit her.“ Sie hielt inne und lauschte auf ein Geräusch an der Haustür.
Ein Knirschen im Schloss.
Dann waren polternde Schritte zu hören, und eine männliche Stimme rief: „Yvonne?“
„Ja, ich bin hier.“ Sie sah Verhoeven an und setzte hinzu: „Das ist mein Mann.“
„ Herrgott, noch eins! Wo steckst du denn wieder?“
„Hi er.“ Sie seufzte. „In der Küche.“
Auf der Schwelle erschien ein hagerer, aber drahtig anmutender Mann von etwa sechzig Jahren. Trotz der Hitze trug er ein langärmliges Jeanshemd zu seinen Bermudashorts. Er stutzte, als er die beiden Kommissare sah. „Du hast Besuch?“
„Ja, zwei Beamte von der Kriminalpolizei.“
„Kriminalpolizei?“
„Wegen meiner Schwester.“ Die Geduld, die in Yvonne Palands Worten schwang, war nur oberflächlich und spürbar fragil. „Du weißt doch, diese Sache, wegen der ich heute früh in der Stadt war.“
Diese Sache , echote es hinter Verhoevens Stirn. Wegen dieser Sache … Sie ist deine Schwester gewesen, Herrgott noch mal! Warum sprichst du
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