Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Tirol denken, in der sie als Kind gewesen war, irgendwann im Zuge eines Familienurlaubs. Eine Wand dieser Kirche hatte vom Boden bis zu Decke aus verglasten Waben bestanden, in denen die auf feinsten Samt genähten Gebeine von unzähligen Nonnen aufbewahrt wurden. Gekreuzte Ober- und Unterschenkelknochen, Schädelfragmente, Gebissteile, alle fein säuberlich auf dunkelroten Samt genäht, damit sie nicht verrutschten …
Hinter ihr begann Hannah Bender zu lachen. Ein gespenstisches Kichern, das kaum von einem Schrei zu unterscheiden war. „Mein Mann hat mich vor fünf Jahren verlassen. Er sagt, es sei einfach nicht mehr auszuhalten mit mir.“ Das Lachen erstarb. „Mein Leben war zu Ende in diesem Sommer, verstehen Sie? Seit damals habe ich nur noch gefroren, ganz egal, wie heiß es draußen ist.“
Winnie drehte sich um und registrierte erst jetzt, dass Edda Benders Mutter eine dicke, wollene Strickjacke trug.
„Das versteht niemand“, fuhr sie tonlos fort. „Selbst Leute, die das gleiche durchgemacht haben, verstehen das nicht.“
„Sie sprechen von den Krempinskis?“, folgte Winnie einer spontanen Eingebung, und sie schien richtig zu liegen, denn Hannah Bender nickte.
„Margo hat vor ein paar Jahren diesen Stein gekauft, wissen Sie? Einen Grabstein.“ Sie schüttelte den Kopf, und in ihren Augen lag blanker Unglauben. „Sie sagte, sie könne nicht länger hoffen und wolle endlich etwas haben, wo sie hingehen kann. Einen Platz, der an Viola erinnert. Aber sie haben ihr nicht erlaubt, den Stein auf den Friedhof zu stellen.“ Sie sah an Winnie vorbei nach dem Schuh ihrer Tochter. Der Sandalette, die die Spürhunde am Tag nach Eddas Verschwinden im Uhlenforst gefunden hatten. Einen ganzen Tag zu spät … „Also kam das Ding in den Garten, und nun sind sie beide tot und begraben, und Violas Stein steht noch immer neben den Rosenbüschen, direkt vor der Terrasse. Ich möchte bloß wissen, was die neuen Besitzer damit anstellen.“ Jetzt lachte sie wieder. „Wahrscheinlich werfen sie ihn einfach auf den Müll.“
Ja, wahrscheinlich, dachte Winnie, während sie verbissen versuchte, die Emotionen niederzukämpfen, die Hannah Benders Worte in ihr heraufbeschworen. „Ich habe gehört, dass Jasper Fennrich auf Frau Krempinskis Begräbnis gewesen ist“, startete sie einen letzten Versuch, vielleicht doch noch zu ein paar brauchbaren Antworten zu kommen.
„Oh ja“, nickte Hannah Bender. „Das stimmt. Er war dort.“
„Haben Sie sich nicht darüber gewundert?“
„Nein. Wieso? Schließlich hat er Margo ja auch regelmäßig besucht, als sie noch lebte.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Er hat ihr sogar mit Violas Stein geholfen. Ihn aufzustellen, meine ich.“
Winnie zog die Augenbrauen hoch. „Jasper Fennrich hat Frau Krempinski nach Violas Tod besucht?“, wiederholte sie vorsichtshalber.
Hannah Bender nickte. „ Oft. Margo sagte einmal, er sei ein wirklich guter Zuhörer und so was fände man ja schrecklich selten.“
„Sie wissen nicht zufällig, woher die beiden sich kannten?“
„Soweit ich weiß, haben sie einander gar nicht gekannt“, antwortete Hannah Bender mit nachdenklicher Miene. „Jedenfalls nicht vor … dieser Sache.“
„ Sie meinen Violas Verschwinden?“
Wieder Nicken. „Es ist nicht leicht, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, wenn man etwas durchmacht, das andere Menschen nicht nachvollziehen können. Da stehen Sie von jetzt auf gleich im Abseits, verstehen Sie?“
W eit besser, als du glaubst, dachte Winnie. In den vierzehn Monaten ihrer Therapie hatten ihre sogenannten Freunde sie kurzerhand vergessen. Verdrängt. Abgeschrieben. Genau wie es ihre Eltern kurz darauf mit Elli getan hatten. „Aber Jasper Fennrich hielt den Kontakt zu Viola Krempinskis Mutter?“, kam sie noch einmal auf die bei weitem vielversprechendste Spur zurück, die ihr der Besuch bei Edda Benders Mutter bislang eingetragen hatte. „All diese Jahre?“
„Soweit ich weiß, ja.“ Hannah Bender starrte wieder die Sandalette ihrer Tochter an. „Er hörte ihr zu und versuchte, sie zu trösten. Und, wissen Sie … Manchmal denke ich, ich sollte auch langsam mal versuchen, das alles …“ Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Wenn ich nur irgendwie abschließen könnte, wissen Sie? Aber ich würde es nie über mich bringen, einfach einen Grabstein … Ich meine, ohne Grund.“ Sie brach erneut ab. Räusperte sich. Versuchte, Zeit zu gewinnen. Dann machte sie plötzlich einen Schritt
Weitere Kostenlose Bücher