Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
auf und ging zum Esstisch, wo sie eine gefaltete Papierserviette aus einer der Schubladen zog und sich die Nase putzte.
„Erinnern Sie sich an Lilli Dahl?“, nutzte Winnie die entstandene Pause, um das Gespräch auf einen für sie besonders wichtigen Aspekt zu lenken.
„Lilli?“ Hannah Bender nickte. „Ja, sicher. Ich glaube, sie war in Rosies Klasse. Sie oder ihre Schwester, ich weiß nicht mehr genau. Waren das nicht Zwillinge?“
Winnie verneinte. „Lilli war ein Jahr älter als ihre Schwester. Lorna war die, die gestorben ist“, fügte sie hinzu, doch in den braunen Augen ihres Gegenübers spiegelte sich kein Erinnern.
„Hm. Kann sein.“
„Hat Lilli eigentlich großen Anteil genommen, damals, als Edda verschwand?“, fragte Winnie, obwohl sie wenig Hoffnung hegte, dass ihre Gesprächspartnerin diese Frage beantworten konnte.
„Sie hat, glaube ich, angeboten, uns bei der Suche zu helfen und …“ Hannah Bender stutzte. „Ja“, sagte sie dann, wobei sie den Blick starr geradeaus richtete, auf irgendeinen Punkt in der Vergangenheit, den nur sie selbst kannte. „Stimmt, ich glaube, meine Mutter hat so was erwähnt. Dass Lilli dagewesen sei, um zu …“, sie zog ungläubig die Stirn in Falten, als traue sie ihrer eigenen Erinnerung nicht über den Weg, „… um zu kondolieren. Seltsam für ein Kind, nicht wahr?“
Vielleicht nicht, wenn dieses Kind ein schlechtes Gewissen hatte, weil es wichtige Informationen zurückhielt, dachte Winnie. Laut sagte sie: „Wussten Sie, dass Lilli Dahl mit Jasper Fennrich verheiratet war?“ Sie war gespannt, ob die Erwähnung dieses Namens Edda Benders Mutter aufschrecken würde, doch Hannah Bender blieb vollkommen gelassen.
„Fennrich?“, fragte sie eher überrascht als befremdet. „Tatsächlich?“
Winnie nickte.
„Was für ein merkwürdiges Paar.“
„Herr Fennrich wurde im Fall Ihrer Tochter verdächtigt, nicht wahr?“, beschloss Winnie, den Köder mitten in den Raum zu werfen.
„Ach, was. Ich habe nie geglaubt, dass er etwas damit zu tun hat.“
Ihre Sicherheit überraschte Winnie. „Nicht?“, fragte sie. „Warum nicht?“
„Wissen Sie, in gewisser Hinsicht mag er ein Wirrkopf sein, aber im Grunde seines Herzens ist er ein durch und durch anständiger Mensch.“ Sie schüttelte sinnend den Kopf. „Ich glaube, er hat eine Menge durchgemacht.“
Winnie fragte nicht, woher sie das wusste. „Ich habe in der Akte gelesen, dass Edda im Uhlenforst verschwand“, sagte sie stattdessen. „Spielte sie öfter dort draußen?“
„Nein.“ Ihre Gesprächspartnerin schüttelte energisch den Kopf. „Wir haben die Kinder immer angehalten, nicht in den Wald zu gehen.“
„Haben Sie eine Ahnung, was Edda im Uhlenforst gewollt haben könnte?“
„Nein, nicht die geringste.“
„Aber die Sandalette Ihrer Tochter …“
Hannah Bender sprang urplötzlich auf und streckte ihrer Besucherin eine ihrer rauen Hände entgegen. „Wollen Sie sie sehen?“
Winnie hatte keine Ahnung, was sie meinte, doch sie folgte Edda Benders Mutter widerstandslos in ein Zimmer im ersten Stock, das roch, als sei dort seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet worden. Der Raum war im Stil der späten Sechziger möbliert: Riesige Blumenmuster zierten die Vorhänge und die Tagesdecke. Und auf dem blauen Teppich lag der Staub millimeterdick. Als sei dieses ganze Zimmer in eine Art Dornröschenschlaf gefallen, dachte Winnie schaudernd.
„Sehen Sie, das ist sie ...“ Hannah Bender deutete auf eine Wandkonsole, auf der zu Winnies größter Bestürzung eine zerschlissene Mädchensandalette stand. Links und rechts davon brannten zwei weitere Grablichter, und über allem lächelte Edda Bender ihr bis in alle Ewigkeit eingefrorenes Lächeln.
„Sie haben mir den Schuh überlassen, als die Ermittlungen offiziell eingestellt wurden“, erklärte Hannah Bender mit einer furchtbar aufgesetzt klingenden Munterkeit. „Das war 1979, schrecklich bald für so eine Sache, finden Sie nicht? Aber Ihre Kollegen damals sagten, das bedeute gar nichts. Sowie es neue Erkenntnisse gebe, würden sie den Fall wieder aufrollen.“
Winnie biss sich auf die Lippen. Sie hatte das unbequeme Gefühl, die Kontrolle über die Situation verloren zu haben.
Um Zeit zu gewinnen, trat sie dicht an die Konsole heran und betrachtete den Schuh, den irgendjemand – vermutlich die Hausherrin – auf ein goldumhäkeltes Samtdeckchen gestellt hatte wie eine Reliquie. Unwillkürlich musste Winnie an eine Kirche in
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