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Die Jahre des Schwarzen Todes

Die Jahre des Schwarzen Todes

Titel: Die Jahre des Schwarzen Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willis Connie
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sagte die junge Frau, und es mußte soviel wie »Ruhe dich aus« oder »Schlaf gut« heißen, aber verstehen konnte sie noch immer nichts. Der Dolmetscher ist hin, dachte sie, und das zusammenkrampfende Gefühl von Panik meldete sich von neuem, schlimmer als der Schmerz in ihrer Brust.
    Der Dolmetscher konnte nicht zerbrochen sein, sagte sie sich. Es war keine Maschine, sondern ein chemischer Verstärker für das syntaktische Gedächtnis. Er war unempfindlich gegen äußere Einflüsse. Aber er konnte nur mit Wörtern in seinem Gedächtnis arbeiten, und Mr. Latimers Mittelenglisch war offensichtlich nutzlos. Mr. Latimers Aussprache lag offenbar so weit daneben, daß der Dolmetscher nicht als die gleichen Worte erkennen konnte, was er hörte, aber das bedeutete nicht, daß er funktionsunfähig war. Er mußte nur neue Daten sammeln, und die wenigen Sätze, die er bislang gehört hatte, waren nicht genug.
    Das Latein hatte er erkannt, dachte sie, und abermals kam die Panik in ihr auf, aber sie widerstand ihr. Er hatte das Latein erkannt, weil das Sakrament der letzten Ölung feststehende Gebetsformeln verwendete. Sie selbst hatte gewußt, welche Worte dazu gehörten. Was die Frauen sagten, waren keine vorgeprägten Formeln, aber es mußte gleichwohl zu entziffern sein. Eigennamen, Anredeformen, Substantive und Verben und bestimmte Redewendungen mußten in bestimmten, öfter wiederholten Positionen erscheinen. Vermutlich ließen sie sich bald identifizieren, und dann konnte der Dolmetscher sie als Schlüssel zum Rest des Codes verwenden. Jetzt kam es nur darauf an, Daten zu sammeln, auf alles zu achten, was gesagt wurde, ohne sich besonders um das Verstehen zu bemühen, und den implantierten Dolmetscher arbeiten zu lassen.
    »Tin keowre hoorwoun desmoortale?« fragte die junge Frau.
    »Gote tallon wottes«, sagte die Alte.
    Weit entfernt begann eine Glocke zu tönen. Kivrin öffnete die Augen. Beide Frauen blickten zum Fenster, obwohl sie nicht durch das gewachste Leinen sehen konnten.
    »Bere wichebay gansanon«, sagte die junge Frau.
    Die andere antwortete nicht. Sie starrte zum Fenster, als könnte sie durch die steife Bespannung sehen, und hielt die Hände wie im Gebet mit ineinandergesteckten Fingern vor sich.
    »Aydreddit ister fayve riblaun«, sagte die junge Frau, und trotz ihres Vorsatzes versuchte Kivrin »Es ist Zeit für die Vesper« oder »Das ist die Vesperglocke« herauszuhören, aber es war nicht die Zeit. Die Glocke läutete weiter, und keine anderen Glocken stimmten ein. War es dieselbe Glocke, die sie schon einmal gehört hatte, einsam und wie verloren im späten Nachmittag?
    Die alte Frau wandte sich abrupt vom Fenster. »Nayna, Elwiss, etbahn diwolffin.« Sie nahm den Nachttopf von der Truhe. »Gawynha thesspyd…«
    Durch die Plankentür drangen unbestimmte Geräusche, dann rennende Tritte auf einer Holztreppe, und eine Kinderstimme schrie: »Modder! Eysmertemay!«
    Ein kleines Mädchen platzte mit fliegenden blonden Zöpfen und Kappenbändern herein und prallte beinahe auf die alte Frau mit dem Nachttopf. Das runde Kindergesicht war rot und tränenverschmiert.
    »Wol yadothoos sceme ahnyous!« knurrte die alte Frau und hob die Schüssel außer Reichweite. »Dowe maun naroonso inhus.«
    Das kleine Mädchen beachtete sie nicht. Es rannte schluchzend auf die junge Frau zu. »Rawzamun hatt may smerte Modder!«
    Modder. Das mußte »Mutter« sein.
    Das kleine Mädchen hielt die Arme hoch, und seine Mutter, o ja, ganz bestimmt die Mutter, hob es auf. Das Kind umschlang den Hals der Mutter und begann zu heulen.
    »Schhh, ahnyes schhh«, sagte Mutter. Dieser Gutturallaut ist ein G, dachte Kivrin. Ein abgehacktes, aber verschliffenes deutsches G. Agnes.
    Das Kind auf den Armen, setzte die Mutter sich auf die Bank hinter dem Fenster. Sie wischte ihm mit dem Schleifenende ihres Kopftuches die Tränen ab. »Spekenaw dothass bifel, Agnes.«
    Ja, die Kleine hieß eindeutig Agnes. Und speken war »sprechen«. Sag mir, was dir geschehen ist.
    »Shayoss maysmerte!« sagte Agnes und zeigte zu einem anderen Kind, das gerade hereingekommen war. Das zweite Mädchen war beträchtlich älter, mindestens neun oder zehn. Es hatte langes braunes Haar, das ihm über den Rücken fiel und von einem dunkelblauen Tuch zusammengehalten wurde.
    »Itgan naso, ahnyes«, sagte das Mädchen. »Tapighte rennin gan derstayges«, und die Mischung von Zuneigung und Geringschätzung in ihrem Ton war unverkennbar. Sie sah nicht wie das

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