Die Judas-Variante - V3
Seil heraus und warf es Flynn
zu.
»Woher hast du das denn?«, fragte Flynn und wischte mit gerunzelter Stirn Rindenstücke vom
Seil.
Das aus einem unbekannten synthetischen Material bestehende Seil war zwar alt, aber in einem
ausgezeichneten Erhaltungszustand. Und es war so glatt, dass es angenehm in der Hand lag,
zugleich aber auch rau genug, dass man es gut verknoten konnte.
»Von einer guten Fee«, sagte Toby knapp. »Hier ist Jensens.«
Flynn fing die zweite Seilrolle auf. »Und was jetzt?«, fragte er und gab es Jensen. »Wir machen
Knoten rein und seilen uns ab?«
»Das macht man so«, sagte Jensen, schüttelte das Seil aus und suchte ein Ende. Mit geschickten
Bewegungen schlang er sich das Seil in einem scheinbar einfachen Muster um Taille und
Oberschenkel und Brust, bis er sicher verschnürt war. »Was passiert mit dem anderen Ende?«,
fragte er Toby.
»Da liegen ein paar Seilrollen zu beiden Seiten des Lochs unter dem Boden«, sagte Toby ihm, wies
auf die Latrine und räumte das Holz wieder in die Nische. »Macht aber trotzdem lieber einen
Knoten ins Ende, wenn das Seil durch ist - für alle Fälle.«
»In Ordnung.« Jensen legte sich vorsichtig neben dem Loch auf den Bauch und drehte den Kopf so,
dass er unter den Boden schauen konnte. »Ich hab's«, sagte er, griff mit dem Seil unter die
Bretter und fummelte an etwas herum, das außerhalb von Flynns Blickfeld war. »Flynn?«
»Bin fast fertig«, sagte Flynn, zog den letzten Knoten in seinem provisorischen Gurtzeug fest und
unterzog es einer nochmaligen Überprüfung, während er zu Jensen hinüberging. »Die Bretter wirken
aber nicht sehr robust«, sagte er, als er ihm das Ende seines Seiles reichte.
»Nein, aber die Balken, an denen die Seilrollen befestigt sind, sind massiv«, versicherte Jensen
ihm, während er Flynns Seil über eine weitere unsichtbare Seilrolle legte.
»Macht schon, macht schon«, drängte Toby. »Ich glaube, ich sehe schon jemanden kommen.«
»Ich arbeite dran«, sagte Jensen mit einem Grunzen, zog fleißig am Seil und führte den losen
Abschnitt über die Seilrolle. Schließlich erreichte er das Ende und führte das verknotete Ende
durch zwei Seile im Gurtzeug, wobei er den losen Abschnitt zügig durchzog und das Ende dann
durchs Loch fallen ließ.
»Flynn?«
»Ich kann's kaum noch erwarten«, sagte Flynn, zog sein eigenes Seil straff und führte das Ende
durch das Gurtzeug, wie Jensen es ihm gezeigt hatte.
»Du musst es mir nur nachmachen«, erklärte Jensen. Er packte das Seil, ließ die Beine über den
Rand des Lochs baumeln und verschwand dann darin.
Flynn beugte sich darüber. Jensen stieg in einem kontrollierten Fall in die Klamm ab und ließ
dabei ständig Seil nach. »Das ist doch total bekloppt«, murmelte er leise, als er sich auf die
Kante des Lochs setzte und sich anschickte, ihm zu folgen.
»Eine Sekunde«, sagte Toby und humpelte zu ihm.
Flynn drehte sich um und zuckte reflexartig zurück, als er die kleine, aber fies aussehende
Pistole in Tobys Hand erblickte. Bevor er noch ins shuriken -Futteral zu greifen vermochte,
hatte der alte Mann die Waffe jedoch umgedreht und reichte sie ihm mit dem Griff zuerst. »Sie
werden die Hütte vielleicht durchsuchen«, erklärte der andere. »Lass sie aber nicht
fallen.«
»Werde ich schon nicht«, sagte Flynn und lief vor Verlegenheit rot an, als er die Waffe nahm und
in den Gürtel schob.
»Und jetzt mach den Abflug«, befahl Toby, bückte sich und schob die Finger unter die Kante der
Kiste. »Ich werde hinter dir zumachen.«
Flynn holte tief Luft, packte das Seil und ließ sich in die Tiefe fallen.
Für einen Moment hing er da und kämpfte gegen einen plötzlichen Schwindel und ein schreckliches
Gefühl der Verwundbarkeit an. Paraglider, sogar flügellahme , waren kein Problem für ihn.
Doch am Ende eines Seils zu hängen, mit der Sicherheit über sich und der Aussicht, auf dem Grund
der Schlucht zu zerschmettern, war eine höchst unangenehme Empfindung.
Über ihm erlosch das diffuse Licht plötzlich, als Toby den Kasten wieder in seine ursprüngliche
Position schwenkte. Flynn verzog das Gesicht und begab sich an den Abstieg.
Zu seinem gelinden Erstaunen verflüchtigte sich das Unbehagen jedoch zum größten Teil, als er
erst einmal in Bewegung war. Das Gurtzeug hielt ihn sicher, und Jensens Methode der Seilführung
erzeugte genug Reibung, um den größten Teil des Gewichts aufzunehmen. Es war eigentlich nicht
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