Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron
erschienen der Saum eines schwarzen Kleides sowie Sandalen mit Füßen darin, die nicht unbedingt menschlich aussahen. Die Zehen waren knotig und lederartig und hatten überlange Nägel, die an Vogelkrallen erinnerten. Als die Frau ganz zu sehen war, gab ich ein höchst peinliches Wimmern von mir.
Sie sah aus wie hundert und war krumm und ausgemergelt. Die zerknitterte rosa Haut im Gesicht, an den Ohrläppchen und am Hals hing in Falten herunter, als wäre sie unter einer Höhensonne auseinandergelaufen. Ihre Nase war ein gebogener Schnabel. Ihre Augen funkelten in den tief liegenden Augenhöhlen und sie hatte fast keine Haare – aus ihrer zerfurchten Kopfhaut sprossen unkrautähnlich bloß ein paar fettige schwarze Büschel.
Ihr Kleid war allerdings todschick. Es war mitternachtsschwarz, bauschig und so voluminös wie ein sechs Nummern zu großer Pelzmantel. Als sie auf mich zuschritt, bewegte sich das Material und ich bemerkte, dass es kein Pelz war. Das Kleid war aus schwarzen Federn gefertigt.
Ihre Hände schoben sich aus den Ärmeln – klauenähnliche Finger winkten mich heran. Ihr Lächeln entblößte Zähne, die an Glasscherben erinnerten. Und habe ich den Geruch erwähnt? Sie roch nicht nur nach alter Frau – sondern nach toter alter Frau.
»Ich habe auf dich gewartet«, erklärte die alte Hexe. »Zum Glück bin ich sehr geduldig.«
Ich versuchte, mein Zaubermesser aus der Luft zu holen. Natürlich erfolglos. Ohne Isis in meinem Kopf hatten meine Worte einfach keine Macht mehr. Ich brauchte meine Werkzeuge. Meine einzige Chance war also, auf Zeit zu spielen und zu hoffen, dass ich meine Gedanken beim nächsten Versuch ausreichend sammeln konnte, um in die Duat einzudringen.
»Wer bist du?«, fragte ich. »Wo sind meine Großeltern?«
Die Hexe erreichte den Fuß der Treppe. Aus zwei Metern Entfernung schien ihr Kleid mit Stücken von … war das tatsächlich Fleisch?
»Erkennst du mich nicht, meine Liebe?« Die Erscheinung flackerte. Ihr Kleid verwandelte sich in einen geblümten Hausmantel. Ihre Sandalen wurden zu verfilzten grünen Pantoffeln. Sie hatte lockige graue Haare, tränende blaue Augen und den Gesichtsausdruck eines verängstigten Kaninchens. Es war das Gesicht meiner Großmutter.
»Sadie?« Ihre Stimme klang schwach und verwirrt.
»Gran!«
Sie verwandelte sich wieder in die schwarz gefiederte Hexe, ihr schreckliches zerstörtes Gesicht grinste heimtückisch. »Ja, Liebes. Deine Familie stammt schließlich von den Pharaonen ab – perfekte Gastkörper für die Götter. Aber du musst mich trotzdem schonen. Das Herz deiner Großmutter ist nicht mehr das, was es mal war.«
Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich hatte schon früher miterlebt, wie die Götter von Menschen Besitz ergriffen, und es war immer schrecklich gewesen. Doch das hier – die Vorstellung, dass irgendeine ägyptische Hexe Besitz von meiner armen alten Gran ergriff –, das war der Horror. Falls in mir irgendwelches Pharaonenblut floss, erstarrte es gerade zu Eis.
»Lass sie in Frieden!« Ich wollte eigentlich brüllen, aber ich fürchte, meine Stimme klang eher wie ein verängstigtes Piepen. »Raus aus ihr!«
Die alte Hexe gackerte. »Ach, das kann ich nicht tun. Weißt du, Sadie Kane, ein paar von uns ziehen deine Stärke in Zweifel.«
»Ein paar von wem – den Göttern?«
Ihr Gesicht kräuselte sich und verwandelte sich für einen Augenblick in einen grässlichen Vogelkopf, kahl und schuppig rosa mit einem langen spitzen Schnabel. Danach war sie wieder die grinsende alte Hexe. Konnte sie sich vielleicht endlich mal entscheiden?
»Die Starken belästige ich nicht, Sadie Kane. In alten Zeiten beschützte ich den Pharao sogar, wenn er sich als würdig erwies. Die Schwachen jedoch … Ah, sind sie erst einmal unter dem Schatten meiner Flügel, dann lasse ich sie nicht mehr los. Ich warte darauf, dass sie sterben. Damit ich mich satt essen kann. Und ich glaube, du, meine Liebe, wirst meine nächste Mahlzeit sein.«
Ich drückte mich mit dem Rücken gegen die Tür.
»Ich kenne dich«, log ich. Fieberhaft ging ich in Gedanken die Liste der ägyptischen Götter durch und versuchte die alte Hexe einzuordnen. Ich war immer noch nicht mal halb so gut wie Carter, wenn es darum ging, mir all diese komischen Namen zu merken. [Vergiss es, Carter. Das ist kein Kompliment. Es bedeutet bloß, dass du der größere Streber bist.] Doch nachdem ich wochenlang unsere Auszubildenden unterrichtet hatte, wurde ich
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