Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
überzeugt und ich spürte eine seltsame Anwandlung von Eifersucht. Walt und Anubis schienen mehr miteinander geredet zu haben als mit mir. Walt war plötzlich Experte in Todesangelegenheiten. Ich hingegen durfte noch nicht mal in Anubis’ Nähe kommen, ohne den Zorn seines Aufpassers – Schu, des Gottes der heißen Luft – zu erregen. Es war so verdammt ungerecht!
Zia stellte sich neben mich und hielt ihren Zauberstab umklammert. »Und jetzt? Müssen wir den Wächter besiegen, um hineinzukommen?«
Ich stellte mir vor, wie sie ein paar ihrer gänseblümchenmordenden Feuerbälle schmiss. Das fehlte uns gerade noch – ein fiepender brennender Schakal, der durch den Gerichtssaal meines Vaters rannte.
»Nicht«, sagte Walt und trat einen Schritt vor. »Er ist bloß ein Pförtner. Wir müssen ihm erklären, warum wir hier sind.«
»Walt«, sagte Carter, »falls du dich irrst …«
Walt hob die Hände und ging langsam auf den Schakal zu. »Ich heiße Walt Stone«, sagte er. »Das sind Carter und Sadie Kane. Und das hier ist Zia …«
»Rashid«, ergänzte Zia.
»Wir haben in der Halle der beiden Wahrheiten etwas zu erledigen.«
Der Schakal knurrte, es klang jedoch eher fragend und nicht Ich-beiß-dir-den-Kopf-ab -bedrohlich.
»Wir sind wegen einer Aussage hier«, fuhr Walt fort. »Es sind wichtige Informationen für Setnes Prozess.«
»Walt«, flüsterte Carter, »seit wann kennst du dich mit Rechtskram aus?«
Ich bedeutete ihm zu schweigen. Es sah aus, als würde Walts Plan aufgehen. Der Schakal legte den Kopf schief und schien zuzuhören, dann erhob er sich und trottete in die Dunkelheit davon. Die Obsidiantüren öffneten sich geräuschlos.
»Gut gemacht, Walt«, sagte ich. »Wie hast du …?«
Als er mir gegenüberstand, schlug mein Herz einen Salto. Für einen Augenblick dachte ich, dass er aussah wie … Nein. Meine verwirrten Gefühle spielten mir einen Streich. »Mmh, woher wusstest du, was du sagen musstest?«
Walt zuckte die Achseln. »Ich hab einfach geraten.«
So schnell, wie sich die Türen geöffnet hatten, schlossen sie sich wieder.
»Beeilt euch!«, warnte Carter. Wir sprinteten in den Gerichtssaal der Toten.
Zu Beginn des Herbstsemesters – meine erste Erfahrung mit einer amerikanischen Schule – bat uns der Lehrer, die Kontaktdaten und Berufe unserer Eltern aufzuschreiben, für den Fall, dass sie beim Orientierungstag einen Beitrag leisten konnten. Von so einer Veranstaltung hatte ich noch nie gehört. Sobald ich kapierte, was das war, kam ich aus dem Kichern nicht mehr raus.
Ich stellte mir vor, wie die Direktorin fragte: Könnte dein Vater vorbeikommen und etwas über seinen Beruf erzählen?
Vielleicht, Mrs Laird … würde ich antworten. Wissen Sie, es ist nur so: Er ist tot. Na ja, nicht ganz tot. Er ist eher ein auferstandener Gott. Er richtet über sterbliche Geister und verfüttert die Herzen der Bösen an sein Hausmonster. Ach ja, und er hat blaue Haut. Ganz sicher würde er am Orientierungstag bei den Schülern, die später ägyptische Gottheiten werden möchten, einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Die Halle der beiden Wahrheiten hatte sich seit meinem letzten Besuch verändert. Der Raum pflegte die Gedanken Osiris’ widerzuspiegeln, deshalb hatte er häufig ausgesehen wie eine gespenstische Nachbildung unserer alten Wohnung in Los Angeles, damals in der glücklicheren Zeit, als wir alle zusammenlebten.
Jetzt, da Dad seinen Dienst tat, sah die Halle vollkommen ägyptisch aus. Der runde Raum war von Steinpfeilern mit eingemeißelten Lotusblütenmustern gesäumt. Kohlebecken mit magischem Feuer tauchten die Wände in grünes und blaues Licht. In der Mitte des Raums stand die Waage der Gerechtigkeit, zwei große goldene Untertassen, die von einem eisernen T im Gleichgewicht gehalten wurden.
Vor der Waage kniete der Geist eines Mannes im Nadelstreifenanzug, er las nervös von einer Schriftrolle ab. Ich verstand, warum er angespannt war. Links und rechts von ihm standen große Reptiliendämonen mit grüner Haut, einem Kobrakopf und gemein aussehenden Stangenwaffen, die über dem Kopf des Geistes verharrten.
Dad saß am anderen Ende des Raums auf einem goldenen Podest, neben ihm stand ein blauhäutiger ägyptischer Bediensteter. Meinen Vater in der Duat zu sehen verwirrte mich, weil er dort zwei Personen in einer zu sein schien. Auf einer Ebene sah er aus, wie er lebend ausgesehen hatte – ein gut aussehender, muskulöser Mann mit schokoladenbrauner Haut,
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