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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Ritter!
    Nackte Wut stieg in der Königin auf, als sie einen Baron nach dem
anderen den Saal wieder verlassen sah. Doch ihr Sohn nickte jedem so huldvoll
zu, als hätte er eine riesige Streitmacht mitgebracht. Der erst vierzehnjährige
König wahrte die Form besser als sie, Blanka, es in dieser Lage vermocht hätte.
Er wusste ebenso gut wie sie, welche Botschaft Mauclerc durch diese Barone
gesandt hatte: Jeder hielt sich an seinen Eid, aber nirgendwo stand
geschrieben, ob der Vasall mit nur zwei oder mit zweitausend Mannen dem Ruf des
Königs zu folgen habe. Alle diese Barone standen hinter dem Ränkeschmied
Mauclerc, der wild entschlossen war, die Dynastie Hugo Capets vom Thron zu
stoßen.
    Die achthundert Ritter, die der Graf von Champagne aufgeboten hatte,
würden nicht ausreichen, um Peter Mauclerc in die Knie zu zwingen. Mit dieser
Truppe allein war ein erfolgreicher Einmarsch in die Bretagne nicht zu
bewältigen.
    Entmutigt betrat Blanka zur Abendmahlzeit den Rittersaal und ließ
sich lustlos auf die Bank fallen.
    »Sing mir ein Lied, Theobald«, bat sie, »eins, das den Geist mir
hebt! Und mich diesen verfluchten Tag vergessen lässt, an dem nur du, mein
lieber Freund, mir die Treue bewahrt hast.«
    Der Graf von Champagne, der mit seiner Heerschar erst am Mittag aus
seiner Stadt Meaux nach Paris gekommen war, trat näher. Huldvoll reichte ihm
Blanka die Hand. Zärtlich griff er danach und wagte es gar, die Fingerspitzen
der Königin mit Küssen zu bedecken.
    »Herrin«, sagte er leicht bebend, »ich habe gute Nachrichten für
Euch.«
    Er griff zu seiner Drehleier und sang:
    »Aus dem tiefen Süden traf
gestern ein in meinen Landen,
der Cousin, der edle Graf,
den zuvor die Ketzer banden …«
    »Graf Raimund!«, unterbrach ihn Blanka überrascht. »Den
hatte ich völlig vergessen!«
    Nickend fuhr Theobald fort:
    »Er harret Eurer Huld in Meaux,
besucht ihn dort; es könnt beglücken,
Clara macht Euch immer froh;
die Tochter auch wird Euch entzücken.«
    »Clara!«, rief Blanka überwältigt. »Sie ist wirklich
mitgekommen?«
    Theobald legte die Drehleier beiseite, setzte sich, griff nach einem
riesigen Stück Gänsebrust, biss hinein, nickte wieder und knurrte mit vollem
Mund, aus dem Fett herabtriefte: »Mal sehen, ob ich sie ein weiteres Mal
retten muss.«
    »Wir fahren gleich morgen früh in dein Meaux«, entschied Blanka.
»Und überlegen unterwegs, wo wir weitere Truppen sammeln können, um in die
Bretagne einzufallen, nachdem uns die Barone so schmählich im Stich gelassen
haben. Bis dahin will ich von dem leidigen Thema nichts mehr hören!«
Versonnen blickte sie Theobald an. »Lass uns lieber über die schönen Aussichten
reden, die uns Graf Raimund eröffnen wird – ein Frankreich, das bis ans
Mittelmeer reicht!«
    Ans Mittelmeer dachte sie nicht, als sie am nächsten Tag
Graf Raimund im Rittersaal der Burg Meaux gegenüberstand. Sie dachte an gar
nichts. Geradezu schlafwandlerisch stieg sie von dem Thron, den Theobald in die
Mitte des Raumes gestellt hatte, und schritt auf den Mann zu, dem bei ihrem
Anblick sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
    Fast auf den Tag genau achtundzwanzig Jahre zuvor hatte sie
Ähnliches erlebt. Der schöne elfenhafte Ludwig hatte das junge Mädchen auf
Anhieb genauso verzaubert wie jetzt der stattliche dunkle Raimund die reife
Frau. Längst vergessen geglaubte Empfindungen wallten in ihr auf, verstärkten
sich durch Erinnerungen an freudige Ehestunden und nahmen gänzlich Besitz von
ihr. Eine feine Röte überzog ihr Gesicht, als sie behutsam einen Schritt vor
den anderen setzte, um das bedrohliche Taumeln in ihrem Inneren nicht durch
einen Sturz zu äußern.
    Raimund ließ jegliche Etikette außer acht, eilte auf Blanka zu und
ergriff ihren Arm. Nicht nur, um sie zu stützen. Auch er bedurfte eines Halts.
    Vor ihm stand nicht die Königin, der er sich ergeben wollte, sondern
die Frau, der er sich ergeben musste. Das Bild Lisettes, das ihn in den
vergangenen Monaten so gequält hatte, verblich im Glanz des Originals. Lisette
war die Ankündigung der Verheißung gewesen, deren Erfüllung jetzt leibhaftig
vor ihm stand. Am liebsten wäre er auf die Knie gefallen und hätte Gott für die
Gnade gedankt, ein solches Weib auch nur anschauen zu dürfen. Doch den Arm, die
Haut zu berühren ging weit darüber hinaus. Es hätte ihn wenig bekümmert, für
diese Unschicklichkeit auf der Stelle zu sterben und auf ewig in der Hölle zu
landen. Das war dieser Augenblick

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