Die Katze
Alex.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Charley sich wieder mit ihrer Umgebung vertraut gemacht hatte. Sie waren immer noch auf dem Turnpike, auf dem sie wegen des dichten Verkehrs nur noch im Schritttempo vorankamen. »Wie spät ist es? Wie lange habe ich geschlafen?«
Er sah auf die Uhr. »Es ist kurz nach vier. Sie sind für circa vierzig Minuten weggedöst.«
»Das glaube ich einfach nicht. Ich schlafe nie nachmittags ein.«
»Vielleicht lag es an der ganzen frischen Luft, die Ihnen ins Gesicht geweht ist.«
»Sind Sie mit Ihrer Arbeit weitergekommen, während ich weggedämmert war?«, fragte sie, als sie die Kopfhörer um seinen Hals bemerkte.
»Ich hab es versucht. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen keine bessere Gesellschaft war.«
»Haben Sie oft Alpträume?«, fragte er.
»Jetzt nicht mehr so oft.«
»Aber früher?«
»Als Kind.«
»Wovon haben Sie gerade geträumt?«
»Ich weiß es nicht mehr«, log Charley, weil sie das leichter fand, als die Wahrheit zu erklären.
»Ich kann mich auch nie an meine Träume erinnern«, sagte Alex. »Vielleicht an einzelne Details. Manchmal wache ich mitten in der Nacht schweißgebadet auf und denke, dass mich ein Typ mit einem Messer verfolgt hat …«
»Ich glaube, den Typen kenne ich«, sagte Charley.
»Ein großer Mann in einem schwarzen Mantel, das Gesicht irgendwie verwischt und undeutlich?«
»Das ist er.«
»Ja, den können Sie von mir aus gern haben.«
»Danke.«
Alex lächelte. »Erzählen Sie mir von Ihren Kindern.«
»Was soll ich sagen? Sie sind perfekt.«
Er lachte. »Selbstverständlich. Ich habe nichts anderes erwartet. Wie heißen Sie?«
»Franny und James. Er ist fünf, sie acht.«
»Franny und James«, wiederholte er. »Schöne Namen.«
»Da sind meine Schwestern anderer Ansicht. Sie hatten Franny und Zooey erwartet.«
»Verzeihung?«
» Franny und Zooey «, wiederholte sie lauter. »Das ist ein Buch von J. D. Salinger. ›Ein mittelmäßiges Buch von einem mittelmäßigen Autor‹, würde mein Vater sagen.«
Alex wirkte angemessen verwirrt.
»Es ist eine Art Tradition in unserer Familie, unseren Kindern literarische Namen zu geben. Meine Schwestern und ich sind nach den Brontë-Schwestern benannt«, gestand sie ihm und fragte sich gleichzeitig, warum sie ihm irgendwas anvertraute. Sie entschied sich immerhin dagegen, auch noch die Anekdote mit Charlotte’s Web zu erzählen. »Sowohl Anne als auch Emily haben diese literarische Mode weitergeführt. Anne hat ihre Kinder Darcy und Tess genannt.«
»Nach Stolz und Vorurteil und Tess von den d’Urbervilles «, vermutete Alex.
»Ich bin beeindruckt«, sagte Charley, und so war es. Die meisten Anwälte lasen nur Fachzeitschriften und gelegentlich mal einen Spionageroman.
»Und Emily?«
»Catherine natürlich!«
»Natürlich. Was sollte man von der Namensschwester der Autorin von Sturmhöhe auch anderes erwarten?«
»Sie sind aber fix«, bemerkte Charley.
»Zu fix, sagen manche.«
»Das ist okay. Ich mag zu fix.«
Alex lächelte und konzentrierte sich wieder auf den Highway. »Wir sind fast da«, sagte er und setzte den Blinker für die Abfahrt in Okeechobee.
Zehn Minuten später hielt er vor ihrem Haus. »Danke. Für alles, was Sie getan haben. Das war wirklich sehr freundlich.« Sie löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Wagentür.
»War mir ein Vergnügen.«
»Wollen Sie noch auf einen Drink hereinkommen?«, fragte sie und biss sich auf die Unterlippe. Was war mit ihr los? Wollte sie den Nachmittag wirklich noch in die Länge ziehen? Hatten sie ihren Vorrat an Smalltalk nicht so ziemlich aufgebraucht?
»Ich kann wirklich nicht«, lehnte er ab. »Aber ich rufe Sie an, wenn ich neue Termine vereinbart habe. Wahrscheinlich Ende der Woche.«
»Klingt gut.« Charley stieg aus.
»Und wenn Sie irgendeine Frage haben, rufen Sie mich an.«
»Das mache ich. Vielen Dank noch mal.« Alex fuhr davon, und sie winkte ihm nach, bis sie merkte, dass er gar nicht guckte. Ihre Finger flatterten sekundenlang ziellos durch die Luft, während sie gleichzeitig das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. »Lynn, hi«, rief sie ihrer Nachbarin zu, die halb verborgen hinter der amerikanischen Flagge stand, die einen großen Teil ihres Gartens einnahm, und wütend zu Charley herüberstarrte.
Aber Lynn ignorierte sie, machte auf ihren hohen Absätzen kehrt und eilte den Weg zum Haus hinauf. Sekunden später hörte man den Widerhall ihrer krachend
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