Die Katzen von Ulthar
Central Hill in Kingsport; blaßrot im letzten Tagesschein, die Scheiben der kleinen, runden Fenster im reflektierten Licht glänzend. Dann, als er wieder in den tiefen Schatten stand, entsann er sich verblüfft, daß der flüchtige Anblick nur seiner kindlichen Erinnerung entsprungen sein konnte, denn die alte, weiße Kirche war schon lange niedergerissen worden, um dem Congregational−Krankenhaus Platz zu machen. Er hatte mit Interesse darüber gelesen, denn die Zeitung hatte irgendwelche befremdlichen Gruben oder Gänge erwähnt, auf die man in dem Felshügel unterhalb der Kirche gestoßen war.
Eine Stimme durchbrach seine Verwunderung, und ihre Vertrautheit nach so langen Jahren verblüffte ihn abermals. Der alte Benijah Corey war Onkel 100
Christophers Dienstbote und schon in jenen weitzurückliegenden Tagen seiner Jugendbesuche bejahrt gewesen. Er mußte jetzt weit über die hundert zählen, und doch konnte diese Stimme niemand anderem gehören. Er vermochte zwar keine Worte zu unterscheiden, doch der Tonfall war unverwechselbar. Daß der
»alte Benijah« noch leben sollte!
»Mister Randy! Mister Randy! Wo steckste denn? Wülste gar, daß deine Tante Marthy am End' vor Angst noch tot umfällt? Hat se dir nich gesacht, daß de nachmittags nich von's Haus weg sollst und vorm Dunkelwer'n wieder drinne zu erschein' hast? Randy! Ran ... die! .. . Das iss der hartnäckichste Bursche, der mir je untergekomm' iss wenn's drum geht, in'n Wald abzuhau'n; hockt den halben Tag wie mondsüchtich bei der Schlangngrube im Oberwald rum! . . .
Heh, du. Ran . . . die!«
Randolph Carter blieb in der Pechschwärze stehen und rieb sich mit der Hand über die Augen. Irgend etwas stimmte nicht. Er war irgendwo gewesen, wo er nicht hätte sein sollen; war an ganz weitentfernten Orten umhergestreift, wo er nicht hingehört hatte, und jetzt hatte er sich unentschuldbar verspätet. Er hatte nicht auf die Kirchturmuhr von Kingsport geachtet, obwohl er sie mit seinem Taschenteleskop leicht hätte erkennen können, doch er wußte, daß die Umstände seiner Verspätung sehr sonderbar und beispiellos waren. Er war sich nicht sicher, ob er das kleine Femrohr dabeihatte und steckte die Hand in seine Jackentasche, um nachzusehen. Nein, es war nicht da, aber da war der große Silberschlüssel, den er irgendwo in einem Kasten gefunden hatte. Onkel Chris hatte ihm etwas Seltsames von einem alten, ungeöffneten Kasten mit einem Schlüssel darin erzählt, aber Tante Martha hatte die Geschichte abrupt unterbrochen und gesagt, das wäre nun wirklich nichts, was man einem Kind erzählen sollte, das ohnehin schon viel zu viel Hausen im Kopf hätte. Er versuchte sich daran zu erinnern, wo genau er den Schlüssel gefunden hatte, doch irgendwie verwirrte sich dabei alles schrecklich. Er vermutete, es war in der Dachkammer zu Hause in Boston, und entsann sich verschwommen, wie er Parks mit einem halben Wochenlohn bestach, ihm beim Öffnen des Kastens zu helfen und den Mund zu halten; doch als er sich dessen entsann, kam ihm das Gesicht von Parks sehr merkwürdig vor, so als hätten die Falten langer Jahre den flinken, kleinen Cockney zerfurcht.
»Ran . . . die! Ran . . . die! He! He! Randy!« Um die schwarze Wegbiegung erschien eine schwankende Laterne, und der alte Benijah fuhr auf die stumme und verwirrte Gestalt des Pilgers los.
»Verdammt nochma', Junge, hier biste also! Haste denn kein'n Mund nich zum Antworten? Seit 'ner halben Stunde blök' ich schon durch die Gegend, da mußte mich doch längst gehört ham. Weißte denn gamich, daß deine Tante Marthy ganz zappelich iss, weil de im Dunkeln noch draußen bist? Wart' nur, wenn ich das dei'm Onkel Chris erzähln tu, wenn er heimkommt. Dabei weißte doch genau, daß die Wälder hierum nich der Ort sinn, wo man zu so 'ner Stund' drin rumtrapsen sollt'! Da sinn Dinger unterwegs, die wo niemand nich gut tun, wie mein Opsch auch schon immer gesacht hat. Na los, Mister Randy, die Hannah hält's Essen auch nich ewich warm!«So wurde Randolph Carter die Straße hinaufgeführt, wo wunderliche Sterne durch hohes, herbstliches Astwerk schimmerten. Und Hunde schlugen an, als an der jenseitigen Kurve das gelbe 101
Licht kleiner Fensterscheiben aufschien, und die Plejaden blinkten über einer offenen Hügelkuppe, wo sich ein großes Walmdach schwarz gegen den trüben Westen abzeichnete. Tante Martha stand in der Tür und schimpfte nicht allzu sehr, als Benijah den Herumtreiber hineinschob. Sie kannte Onkel
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