Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Spinnweben und dem Geruch von
vergilbtem Pergament und Mäusekot wirkte er alles andere als einladend auf sie.
Wäre es nach ihr gegangen, säße sie jetzt in ihrem Herbarium. Bei ihren
Pflanzen, ihrem ganzen Stolz. Wie fast immer um diese Zeit. Aber was ihr heute
früh widerfahren war, hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Und wenn ihr
etwas nicht gefiel, dann die Aussicht, dass dieser Zustand von Dauer sein
würde.
Genau dies aber war anscheinend der Fall. Höchste
Zeit, etwas zu unternehmen.
Aber was?
Ohne auf Anhieb eine Antwort parat zu haben, schlich
Schwester Irmingardis zwischen den Bücherregalen hin und her. Jede Menge Akten,
verschnürte Ledermappen und eine geradezu unübersehbare Anzahl von Folianten.
Und natürlich jede Menge Staub. Ihre innere Anspannung wuchs, und die Zeit
zerrann ihr zwischen den Fingern. Eher durch Zufall wurde sie schließlich
fündig, zerschlug ein Gewirr von Spinnweben und zog den Folianten mit der
korrekten Signatur aus dem Regal. Kein Grund zu frohlocken!, fuhr es ihr durch
den Sinn. Denn der schwierigste Teil des Unterfangens sollte noch folgen. Der
Teil, vor dem sie sich am meisten ängstigte. Noch mehr, als von Schwester
Irmtraut, der Bibliothekarin, oder der Priorin auf frischer Tat ertappt zu
werden.
Als sie den in Schweinsleder eingebundenen Band mit
der Aufschrift ›Chronica Monasterii Sancte Afrae Herbipolensis * ‹ in der Hand hielt, schickte die zierliche Ordensfrau
ein Stoßgebet zum Himmel. Und begann mit vor Aufregung geröteten Wangen darin
zu blättern. Anno Domini 1390, 1391. Weiter! 1392 … geschafft! Juli, August,
September – deo gratias! Schwester Irmingardis atmete laut und vernehmlich
durch.
September 1392. Sie war am Ziel. Und fühlte sich so
elend wie nie zuvor.
Gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Beine den Dienst
versagten, klemmte sich Schwester Irmingardis den Folianten unter den Arm und
steuerte auf den nächstbesten Stehpult zu. Der Boden unter ihren Füßen geriet
ins Wanken, und die Luft war so stickig, dass sie meinte, sie müsse sich
übergeben.
Aber dann, dem flauen Gefühl in der
Magengegend und sämtlichen Kopfschmerzen zum Trotz, war es endlich geschafft.
Das Buch lag aufgeschlagen vor ihr.
Sie aber, Schwester Irmingardis vom Orden der
Benediktinerinnen von St. Afra zu Würzburg, war nicht mehr diejenige, welche
sie einmal gewesen war.
Schuld daran war nur ein einziger, auf vergilbtes
Pergament eher achtlos hingekritzelter Satz. Wer immer die Feder geführt hatte
– er war in Eile gewesen. Genau wie sie jetzt. Wenn auch aus gänzlich anderem
Grund.
Schwester Irmingardis hob den Kopf und lauschte auf
den Korridor hinaus. Totenstille. Zeit genug also, sich den Satz, der ihr Leben
verändern sollte, auf Punkt und Komma einzuprägen: »Dienstag, 17. Tag im
September im Jahre des Herrn 1392. Eleonora G., Weib des Martin G., wurde am
heutigen Tage von einem gesunden Knaben entbunden.« Und dann, auf der nächsten
Seite: »Montag, zwanzigster Tag im Monat Januarius Anno Domini 1393, Tag des
heiligen Sebastian. Nach langer Krankheit Taufe des Sohnes besagter Eleonore G.
auf den Namen Demetrius. Auf Wunsch der Mutter wird der Knabe in die Obhut von
Schwester Serafina, Vorsteherin der Krankenstation, gegeben. Möge ihm allzeit
Glück und Gesundheit beschieden sein. Amen.« Die Wangen von Schwester
Irmingardis, glatt und rosig wie ein Pfirsich, begannen zu zucken und
verfärbten sich dunkelrot, und die junge Ordensfrau ertappte sich bei dem
Gedanken, man könne das Pochen ihres Herzens bis auf den Gang hinaus hören.
Zwar traf sie das, was sie schwarz auf weiß vor sich sah, nicht unvorbereitet.
Dennoch musste sie den Eintrag immer und immer wieder lesen. So lange, bis ihr
die Tränen auf das blütenweiße Habit tropften.
Demetrius – ihr Halbbruder! Der große Demetrius!
Erzdiakon, Mitglied des Domkapitels, Zierde der Wissenschaften und Leuchtfeuer
des Glaubens in dunkler Zeit. Ein Asket, wie er im Buche stand, und Vorbild an
Rechtschaffenheit.
Der Mann, der Schwester Serafina als seine Mutter
bezeichnet hatte.
Und ein Dämon, wie es ihn kein zweites Mal gab.
Während sie so dastand und ihre Gedanken zu ordnen
versuchte, fiel ihr das Gespräch mit dem Vogt des Grafen von Wertheim tags
zuvor wieder ein. Der Hauch eines Lächelns flog über ihr Gesicht, obwohl ihr
weiß Gott nicht danach zumute war. Die Angelegenheit war ernst, bitter ernst
sogar. Schwester Irmingardis schloss die Augen und versuchte sich voll und ganz
auf
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