Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
Philippa. »Frisch aus dem Berg.«
»Wir sollten lieber wieder hoch«, sagte Dybbuk. »Wir müssen sie verpasst haben.«
Ehe jemand antworten konnte, fiel neben ihnen etwas mit lautem Platschen ins Wasser.
»Was war das?«, fragte John und spähte gerade lange genug über den Rand des Kübels, um zu sehen, wie ein Funkgerät in der Tiefe versank. Einen Moment lang glaubte er, dass er sein eigenes Sprechgerät fallen gelassen hatte. Doch dann stellte er fest, dass er es nach wie vor in der Hand hielt. Noch während er überlegte, dass es Groanins Gerät gewesen sein musste, sackte urplötzlich der Eimer unter ihnen ab, und ehe einer von ihnen auch nur daran denken konnte, seine Dschinnkräfte zu fokussieren, stürzten alle drei kopfüber ins kalte Wasser.
»Was ist passiert?«, rief Dybbuk, sobald er wieder an die Oberfläche kam.
»Ich weiß nicht«, rief John zurück, der gerade noch Zeit gehabt hatte, den Meißel zu packen. Er sah das nutzlos gewordene Funkgerät an und ließ es fallen, dann schob er sich den Meißel unter den Hosengürtel, um sich mit beiden Armen über Wasser zu halten. Wie gut, dass er daran gedacht hatte, seine Taschenlampe auf einem Wandvorsprung abzulegen, denn sowohl Philippa als auch Dybbuk hatten ihre Lampen verloren.
Vor Kälte keuchend versuchten die drei genügend Dschinnkräfte zu sammeln, um sich aus dem Brunnenschacht hinauszubefördern, doch es war zu spät; sie waren bereits bis aufs Mark durchgefroren und somit mehr oder weniger hilflos.
»Dieser dämliche Trottel«, schimpfte Dybbuk. »Was sollte das denn?« Dann begann er um Hilfe zu rufen.
»Sei still«, sagte John zu ihm. »Lass mich kurz nachdenken. Groanin würde das nie mit Absicht tun. Es muss ihm was zugestoßen sein.« Und er erzählte ihnen, dass Groanins Funkgerät ins Wasser gefallen war. »Deshalb ist es vielleicht keine gute Idee, um Hilfe zu rufen. Zumindest nicht gleich.«
»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Dybbuk. »Keiner von uns kann seine Dschinnkräfte einsetzen. Und wir schaffen es nie im Leben, an diesem Seil bis ganz nach oben zu klettern. Aber wenn wir hier unten bleiben, ertrinken wir wahrscheinlich.«
»Es geht doch nichts über ein bisschen Optimismus«, wiederholte Philippa.
»Vielleicht ist mir ja was entgangen«, erwiderte Dybbukund schlug frustriert aufs Wasser. »Aber für Optimismus sehe ich nicht viel Anlass.«
»Die Nerven zu verlieren hilft uns jedenfalls auch nicht weiter«, meinte Philippa.
»Hört auf, euch zu streiten«, sagte John.
»Wer streitet sich denn?«, widersprach Philippa.
»Es könnte schlimmer sein«, sagte John. »Es könnte auch stockdunkel sein. Aber ich denke, mit dem Licht bleiben uns noch ein, zwei Möglichkeiten.«
»Und die wären?« Dybbuk schien von Johns Überlegungen wenig überzeugt.
»Wir müssen zu der Stelle hochklettern, an der die Wand nachgegeben hat«, sagte er. »Vielleicht können wir noch ein paar Steine rausbrechen und uns ein Sims bauen, auf dem wir sitzen können, bis wir trocken sind. Trocken und warm genug, um unsere Kräfte wieder einzusetzen.«
Philippa sah den Schacht hinauf. Die eingestürzte Wandstelle befand sich gut zehn Meter über ihnen. Sie war sich keineswegs sicher, dass sie Johns Vorschlag umsetzen konnte.
»Gute Idee«, sagte sie und hoffte das Beste.
Hexerblick
Seit der Audienz mit seinen Anhängern im Heiligtum an diesem Morgen quälte Guru Masamjhasara der Verdacht, dass er dem einarmigen Mann schon einmal begegnet war. Es musste mindestens zehn Jahre her sein, und der Mann, Nimrods Butler, war Engländer gewesen, während dieser hier – der Mann von heute Morgen, der sich Mr Gupta nannte – Inder war. Trotzdem hatte dieser Neuzugang im Aschram etwas an sich, was ihn stark an Nimrods Butler erinnerte. Aber was? Der Guru war damals Arzt gewesen, mit einer gut gehenden Londoner Arztpraxis, die sogar die Frau des britischen Premierministers zu ihren Patienten zählte. Genau aus diesem Grund hatte man ihn an einem Apriltag gegen Ende des letzten Jahrhunderts frühmorgens in die Downing Street geholt und gebeten, sich um den Premierminister persönlich zu kümmern.
Es gab nicht viele Ärzte, die dessen seltsame Symptome erkannt hätten, denn oberflächlich betrachtet schien der Premierminister an der Wahnvorstellung zu leiden, ein etwa zwölf Jahre altes Mädchen zu sein. Die meisten Ärzte, überlegte der Guru, hätten den PM für wahnsinnig erklärt und ihn in die nächste Irrenanstalt eingewiesen.
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