Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
siebzig Jahre angefühlt, kann ich dir sagen.«
John brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass die Zeit aus den Fugen geraten war, während er und seine Kameraden sich im Krater des Kailash aufgehalten hatten, dass die siebzig Wochen mindestens siebzig Jahre gewesen waren und dass ihreFamilienangehörigen höchstwahrscheinlich alle gestorben waren – entweder an Altersschwäche oder im Zweiten Weltkrieg, von dem keiner von ihnen etwas zu ahnen schien. Also hielt er den Mund und wartete ab.
In der Zwischenzeit hielt Hynkell Wort und ließ Rakshasas frei, der außer sich vor Zuneigung um John herumsprang, ihm das Gesicht ableckte und verspielt in die Hand biss. John packte den Wolf an seinem dichten Fellkragen und raunte ihm leise ins Ohr, was sich ereignet hatte.
»Sie wissen, dass ich ein Dschinn bin«, sagte er. »Sie haben natürlich etwas in der Art vermutet, als sie uns auf einem fliegenden Teppich hier ankommen sahen. Himmler hat sie vor über siebzig Jahren hergeschickt, um das Geheimnis des ewigen Lebens und alles Mögliche über übersinnliche Kräfte in Tibet herauszufinden, aber die Mönche in Shamba-La haben sie jedes Mal abgewiesen. Ich vermute, dass sie hier aufgetaucht sind, nachdem Sie das letzte Mal hier waren. Sonst hätten Sie mir sicher davon erzählt, oder?«
Rakshasas gab ein kurzes Bellen von sich.
»Jedenfalls bin ich für sie das, was übersinnlichen tibetischen Kräften am nächsten kommt. Also wollen sie mich statt eines Mönchs aus Shamba-La nach Berlin mitnehmen. Und ich habe mich damit einverstanden erklärt.«
Ganz langsam wich der Wolf zurück, bis er einfach dastand und John mit einem Ausdruck von Enttäuschung und Verachtung in den blauen Augen ansah, als wollte er sagen: »Du hast dich auf ein Geschäft mit den Nazis eingelassen?«
»Was sollte ich denn machen?«, fragte John zurück. »Seit ich im Kailash-Krater bin, habe ich keine Dschinnkraft mehr. Sie hat mich komplett verlassen. Ich hatte keine Chance, mich ihnen zuwidersetzen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich musste ihnen versprechen, mit nach Berlin zu kommen, sonst hätte man Sie gefoltert. Die Nazis wollten Sie bei lebendigem Leib braten, haben sie gesagt, und ich hätte zusehen müssen.«
Nachdem Rakshasas ihn noch ein wenig länger angestarrt hatte, schüttelte er den Kopf. John musste nicht in ihn hineinschlüpfen, um zu wissen, was er dachte.
»Für Sie mag das nicht wichtig sein«, sagte John. »Aber ich hätte das bestimmt nicht ausgehalten.«
Da streckte Rakshasas die Schnauze in die Luft und stieß ein lang gezogenes Heulen aus, was John natürlich an Groanin denken ließ und an das, was im Yellowstone-Park vor sich ging.
»Ja, ich weiß. Ich denke auch an den armen Groanin. Aber dieser Nazikommandeur ist wirklich gerissen. Er hat mich gezwungen, mir zu wünschen, dass meinen Eltern etwas zustößt, wenn ich mein Wort nicht halte. Und ich bin schlau genug, Wünsche nicht leichtfertig auszusprechen, schon gar nicht, wenn es um das Leben anderer Leute geht. Sie wissen doch, wie das ist. Ich musste mich also entscheiden.«
John schlug sich mit der Faust in die Handfläche, während er versuchte, sich dem Wolf verständlich zu machen.
»Ich hatte die Wahl zwischen Groanin und meinen Eltern. Also musste ich mich für sie entscheiden. Das würde jeder tun, oder nicht?«
Rakshasas trat vor und leckte die Träne fort, die John über das Gesicht lief; dann biss er ihn abermals in die Hand, als wolle er sagen: Reiß dich zusammen.
John riss sich zusammen und sah hilflos mit an, wie der fliegende Teppich zusammengerollt und auf einen Kletterrucksack geschnallt wurde. Obwohl er bezweifelte, dass der Teppich innerhalbdes Kraters überhaupt fliegen konnte, drängte es ihn, Hynkell darauf anzusprechen und ihn sogar ein wenig damit aufzuziehen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Wollen Sie denn nicht, dass ich ein paar von Ihnen ausfliege? Das wäre doch viel einfacher, als zu Fuß zu gehen, denke ich mir. Und auf jeden Fall deutlich schneller.«
Hynkell, der sich für den Abstieg gerade ein Seil anlegte, schüttelte den Kopf. »Ich kann von meinen Männern niemanden bitten, hier zu warten«, sagte er. »Entweder gehen wir alle zusammen zurück oder gar keiner. Außerdem bin ich noch nicht bereit, mich voll und ganz deiner Kontrolle zu überlassen, John.«
»Ich habe Ihnen doch schon mein Wort gegeben«, sagte John.
»In Berlin wird es etwas anderes sein, aber hier oben halte ich es für das Beste,
Weitere Kostenlose Bücher