Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
Wolf weiß, wenn etwas dem Tode nah ist. Nein, wenn du Mr Groanin retten willst, erfordert das weitaus drastischere Maßnahmen als alles, was ein Arzt vollbringen kann. Ist das nicht immer so?«
»Was muss ich tun?«
»Als Erstes müssen wir ihn in Schnee und Eis begraben. Um seinen Körper kühl zu halten. Allerdings bleibt im Yellowstone-Park nichts lange vergraben. Deshalb können wir von Glück sagen, dass dein Freund Zagreus dabei ist. Wenn er damit einverstanden ist, kann er hierbleiben und Groanins Körper im Auge behalten, während wir weg sind. Um sicherzustellen, dass er nicht gefressen wird. Auch wenn Zagreus ein großer Bursche ist, würde ich sagen, dass er damit alle Hände voll zu tun haben wird. Es gibt viele Geschöpfe im Nationalpark, die nichts gegen eine kostenlose Mahlzeit in Form eines toten Menschen einzuwenden hätten. Außerdem liegt der Geruch von Blut in der Luft.«
»Und was dann?«, wollte John wissen.
»Wir haben eine lange und beschwerliche Reise vor uns, John. Eine Reise, die für uns beide nicht ohne Risiko ist. An meinem Leben liegt mir wenig. Aber deines ist mir wichtiger als ein schönes, saftiges Steak, und das will etwas heißen. Bist du sicher, dass du dazu bereit bist?«
»Ich bin schuld an Groanins Lage«, sagte John. »Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, in die Zukunft zu schauen …«
»Fürwahr, die Zukunft ist gewiss«, sagte Rakshasas. »Unvorhersehbar ist die Vergangenheit.«
»… wäre er nie hierhergekommen.«
»Er ist noch nie gern in die Fremde gereist, das ist richtig. Wenn man Engländern wie Mr Groanin begegnet, kann man sich kaum vorstellen, dass die Briten einmal das größte Imperium der Welt besessen haben. Wenn es nach Leuten wie ihm gegangen wäre, hätten Sir Francis Drake, John Churchill, Lord Nelson und Kapitän Cook nie ihren Sessel verlassen. Aber so ist es nun mal. Wir sind alle verschiedene Farben im Malkasten des Lebens.«
»Wäre es nicht einfacher, ihn mitzunehmen?«
»Nein, das wäre es nicht«, sagte Rakshasas. »Es ist nämlich durchaus möglich, dass sein Geist seinen Körper bereits verlassen hat und durch den Park wandert. Wenn wir seinen Körper mitnähmen, können wir ihn womöglich nie zurückholen.«
»Und wo müssen wir hin?«, fragte John.
»Weit, weit fort. Ans andere Ende der Welt und jenseits aller Wahrscheinlichkeit, mehr oder weniger. Ein Glück, dass du den Teppich dabeihast, denn wir haben viele Stunden Flug vor uns. Wie in alten Zeiten. Es muss Ewigkeiten her sein, seit ich das letzte Mal mit einem alten Marrakesch-Express geflogen bin. So haben wir fliegende Teppiche genannt, als ich noch ein Junge war.«
»Wo müssen wir hin?« John klang allmählich entnervt.
»Habe ich das nicht gesagt? Nach Tibet. Dahin müssen wir, John. Nach Tibet. Es ist der einzige Ort, wo man ihm jetzt noch helfen kann.«
Eine Botschaft von jenseits des Grabes
Im King David Hotel beklagte sich Nimrod bei Mr Rakshasas’ früherem Butler, Mr Burton, über das Hinscheiden seines alten Freundes: »Wenn nur Mr Rakshasas noch bei uns wäre«, sagte er. »Er wüsste genau, wo man die Suche nach einem so legendären Ort wie Shangri-La anfangen muss.«
»Ein irdisches Paradies ist in der Mythologie ein immer wiederkehrendes Motiv, nicht wahr?«, stellte Mr Burton fest.
»Ja. Vom Garten Eden in der Bibel bis zum Dilmun im Epos des Gilgamesch. Selbst in der keltischen Literatur gibt es die Inseln der Seligen. So gut wie jede große Zivilisation verfügt über Geschichten von Reisenden, in denen ein legendäres verlorenes Paradies vorkommt.«
»Dann finde ich, dass wir am besten mit den Geschichten selbst anfangen sollten«, sagte Mr Burton. »In einem Buchladen oder einer Bibliothek vielleicht. Es ist der Fluch der modernen Zeit, dass die Menschen ihr Leben leben, ohne dem Wissen noch viel Beachtung zu schenken.«
»Potztausend! Sie haben recht«, sagte Nimrod. »Ich könnte die Bibliothek in Rakshasas’ Lampe aufsuchen. Sie enthält eine Sammlung esoterischer Werke, die sogar der Kongressbibliothek Konkurrenz macht. Rakshasas hat sicher einige seltene antiquarische Bücher über Shangri-La.«
Nimrod holte Mr Rakshasas’ Dschinnlampe aus seiner ledernen Louis-Choppsouis-Reisetasche, stellte sie auf den Couchtisch und verzog sich in Form einer dicken Wolke aus transsubstantiertem Rauch in das riesige geheime Lampeninnere.
Die Lampe bestand fast gänzlich aus einer gewaltigen Bibliothek, in der es ebenso
Weitere Kostenlose Bücher