Die Kinder des Kapitän Grant
Verwundete. Seine Augen öffneten sich. Ununterbrochen murmelten die Lippen einige Worte, und der Major hörte, als er ihm das Ohr näherte, wiederholt:
»Mylord … der Brief … Ben Joyce …«
Der Major wiederholte die Worte und sah seine Genossen an. Was wollte Mulrady sagen? Ben Joyce hatte den Matrosen angefallen, aber aus welchem Grunde? Geschah es einzig darum, ihn aufzuhalten und seine Ankunft beim Duncan zu verhindern? Dieser Brief …
Glenarvan durchsuchte Mulrady’s Taschen. Der an Tom Austin gerichtete Brief fand sich nicht mehr darin vor!
Unter Unruhe und Angst verstrich die Nacht. Jeden Augenblick fürchtete man, den Verwundeten verscheiden zu sehen. Ein brennendes Fieber verzehrte ihn. Lady Helena und Miß Grant, zwei barmherzige Schwestern, verließen ihn nicht. Nie wurde ein Leidender besser und von theilnehmenderen Händen gepflegt.
Der Tag kam. Der Regen hatte aufgehört. Dicke Wolken wälzten sich noch am Himmel dahin. Der Erdboden war mit abgebrochenen Zweigen übersäet. Der durch die Wasserströme erweichte Thonboden hatte noch mehr nachgegeben, so daß der Zugang zum Wagen, der nun aber nicht weiter einsinken konnte, beschwerlich wurde.
John Mangles, Paganel und Glenarvan machten sich mit Tagesanbruch auf, die Umgebung ihres Lagerplatzes zu durchsuchen. Sie gingen auch auf dem noch mit Blut befleckten Fußpfade dahin, sahen aber weder von Ben Joyce, noch von seiner Bande eine Spur. Sie gingen bis zu der Stelle, wo der Anfall stattgefunden hatte. Dort lagen zwei von Mulrady’s Kugeln getroffene Leichen. Die Eine war die des Hufschmieds von Black-Point. Das vom Tode noch mehr entstellte Gesicht sah schrecklich aus.
Glenarvan dehnte seine Nachforschungen nicht weiter aus, die Klugheit widerrieth es, sich zu sehr zu entfernen. Er kam also zum Wagen zurück, offenbar von dem Ernste der Lage durchdrungen.
»Es ist nicht daran zu denken, einen anderen Boten nach Melbourne zu senden, sagte er.
– Und doch ist das wohl nothwendig, Mylord, erwiderte John Mangles, und ich werde versuchen, durchzuführen, was meinem Matrosen nicht gelang.
– Nein, John. Du hast nicht einmal ein Pferd, Dich diese zweihundert Meilen weit hinzutragen!«
Wirklich war Mulradys Pferd, das Einzige, welches noch vorhanden war, nicht wieder zum Vorschein gekommen. War es auch unter den Streichen der Mörder gefallen? Irrte es in der Wüste umher? Hatten sich die Sträflinge seiner bemächtigt?
»Was da kommen möge, fuhr Glenarvan fort, wir trennen uns nicht weiter. Wir wollen acht oder vierzehn Tage warten, bis der Snowy wieder seinen gewöhnlichen Wasserstand hat. Dann erreichen wir die Twofold-Bai in kleinen Tagemärschen, und senden dem Duncan auf sicherem Wege den Befehl, nach der Küste zu kommen.
– Das ist der einzig mögliche Ausweg, meinte Paganel.
– Also, meine Freunde, wiederholte Glenarvan, keine weitere Trennung. Ein Mensch allein läuft zu viel Gefahr in dieser von Räubern unsicheren Wüstenei. Und nun errette Gott unseren armen Matrosen, und beschütze uns selbst!«
Glenarvan hatte doppelt Recht; erstens, jedes vereinzelte Wagniß zu verbieten, und dann, an den Ufern des Snowy die Möglichkeit eines Uebergangs geduldig abzuwarten. Kaum fünfunddreißig Meilen trennten ihn von Delegete, der ersten Grenzstadt von Neu-Süd-Wales, wo er Transportmittel nach der Twofold-Bai finden mußte. Von dort wollte er dem Duncan die nöthigen Ordres nach Melbourne telegraphisch zugehen lassen.
Das waren wohl ganz weise Maßregeln, doch man ergriff sie zu spät. Hätte Glenarvan Mulrady nicht auf den Weg nach Lucknow geschickt, wie viel Unglück hätte, abgesehen von dem Mordanfall auf den Matrosen, verhütet werden können!
Als er nach der Lagerstelle zurückkam, fand er seine Begleiter ruhiger. Sie schienen wieder Hoffnung geschöpft zu haben.
»Es geht besser! Es geht besser! rief Robert, der Lord Glenarvan entgegensprang.
– Mulrady? …
– Ja, Edward, antwortete Lady Helena. Es ist eine Reaction eingetreten; der Major ist beruhigter. Unser Matrose wird leben.
– Wo ist Mac Nabbs? fragte Glenarvan.
– Bei ihm. Mulrady hat ihn sprechen wollen. Wir dürfen sie nicht stören.«
In der That war der Verwundete seit einer Stunde aus seiner Ohnmacht erwacht, und das Fieber hatte abgenommen. Die erste Sorge Mulrady’s aber, als er Bewußtsein und Sprache wieder bekam, war die, nach Lord Glenarvan, oder an dessen Stelle nach dem Major zu verlangen. Als Mac Nabbs ihn so schwach sah, wollte er ihm jede
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