Die Kindes des Todes - Inspektor Rebus 14
klein - beziehungsweise »erlesen«, wie sie es gerne nannte. Sie hatte jeden davon mindestens schon ein halbes Dutzend Mal gesehen, kannte viele Dialoge auswendig und wusste haargenau, was in welcher Szene passierte. Sie spielte mit dem Gedanken, eine CD aufzulegen, den Ton des Fernsehers abzustellen und sich ein eigenes Skript für den öden Film auszudenken. Oder sogar für die Aga-Frösche. Sie hatte bereits eine Zeitschrift durchgeblättert, ein Buch in die Hand genommen und wieder weggelegt, die Chips und die Schokolade gegessen, die sie an einer Tankstelle gekauft hatte. Auf dem Küchentisch stand eine halb aufgegessene Portion chinesische Bratnudeln, die sie vielleicht noch in die Mikrowelle schieben würde. Am schlimmsten war, dass sie keinen Wein mehr hatte, in der Wohnung gab es nur lauter leere Flaschen, die auf den Transport zum Altglascontainer warteten. Im Schrank stand eine Flasche Gin, aber zum Mixen hatte sie bloß Diät-Cola, und so verzweifelt war sie nun auch wieder nicht.
Zumindest noch nicht.
Sie konnte eine ihrer Freundinnen anrufen, aber sie wusste, dass sie nicht besonders unterhaltsam sein würde. Auf ihrem Anrufbeantworter war eine Nachricht ihrer Freundin Caroline, die sie fragte, ob sie Lust habe, mit ihr irgendwo ein Glas zu trinken. Die blonde, schlanke Caroline erregte immer viel Aufmerksamkeit, wenn sie beide zusammen ausgingen. Siobhan hatte beschlossen, auf den Anruf vorerst nicht zu reagieren. Sie war zu erschöpft, und der Port-Edgar-Fall schwirrte ihr hartnäckig im Kopf herum. Sie hatte sich einen Becher Kaffee aufgegossen und beim ersten Schluck festgestellt, dass sie vergessen hatte, den Wasserkocher anzustellen. Dann hatte sie ein paar Minuten damit verbracht, in der Küche nach Zucker zu suchen, ehe ihr schließlich einfiel, dass sie überhaupt keinen Zucker in den Kaffee tat. Seit ihrer Jugend eigentlich nicht mehr.
»Altersdemenz«, murmelte sie halblaut. »Außerdem führst du Selbstgespräche: ein weiteres Symptom.« Schokolade und Chips waren nicht gerade ein Bestandteil ihrer Anti-Panik-Diät. Salz, tierisches Eiweiß, Zucker. Ihr Herz raste zwar nicht direkt, aber sie wusste, dass sie vorm Zubettgehen irgendwie abschalten, sich entspannen musste. Sie hatte eine Weile aus dem Fenster gestarrt und die Leute im Haus gegenüber beobachtet, danach die Nase gegen die Scheibe gedrückt, um die Autos besser sehen zu können, die zwei Etagen tiefer vorbeifuhren. Es herrschte kaum Verkehr, meist lag die Straße im Dunkeln, und nur die Bürgersteige waren vom orangefarbenen Laternenlicht erhellt. Kein einziger Bösewicht draußen, nichts, wovor sie Angst zu haben brauchte.
Sie erinnerte sich, dass sie vor vielen Jahren, in der Zeit, als sie noch Zucker in den Kaffee tat, eine Weile lang Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Sie war damals dreizehn oder vierzehn gewesen: zu alt, um sich ihren Eltern anzuvertrauen. Sie investierte ihr gesamtes Taschengeld in Batterien für ihre Taschenlampe, die sie die ganze Nacht brennen ließ, unter der Bettdecke dabeihatte, wenn sie die Luft anhielt und horchte, ob in ihrem Zimmer auch keine fremden Atemzüge zu hören waren. Die wenigen Male, die ihre Eltern sie erwischten, dachten sie, dass sie nur deshalb so spät noch wach war, weil sie lesen wollte. Sie schaffte es nicht, sich zu entscheiden, was besser war: die Tür offen lassen, damit sie notfalls schnell fliehen konnte, oder die Tür fest zumachen, um Eindringlinge fern zu halten. Sie sah mehrfach am Tag unterm Bett nach, obwohl dort kaum Platz war: Es war nämlich der Aufbewahrungsort für ihre Schallplatten. Seltsamerweise hatte sie niemals Albträume. Wenn sie schließlich irgendwann in den Schlaf sank, war dieser Schlaf tief und erfrischend. Sie hatte niemals Panikattacken. Und irgendwann vergaß sie ihre Angst schlicht und einfach. Die Taschenlampe wanderte zurück in die Kommode. Das Geld, das sie für Batterien vergeudet hatte, gab sie von da an für Schminke aus. Sie war sich nicht mehr sicher, was zuerst da gewesen war: ihr Interesse an Jungen oder deren Interesse an ihr. »Lang, lang ist's her, meine Liebe«, sagte sie nun zu sich selbst. Draußen gab es keine Bösewichter, aber auch nur herzlich wenig Ritter, mit oder ohne Rüstung. Sie ging zum Esstisch und sah sich ihre Unterlagen über den Fall an. Sie waren ohne jegliches System ausgebreitet - alles, was man ihr am ersten Tag ausgehändigt hatte. Berichte der Pathologen und der Kriminaltechniker, Fotos des Tatorts
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