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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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leicht verdünnt, und mit einigen besonders bösen Grammatikfehlern gewürzt.
    Um drei Minuten vor neun öffnete sich die Tür des Fotoladens, und ein älterer Neger machte sich daran, den Schmutz vom Trottoir in den Rinnstein zu kehren. Um neun Uhr machte ein junger Bursche, mit Brille, von ordentlichem Aussehen, die Tür auf und pflockte sie ein; da ging ich rein mit dem schwarzorangen Abschnitt, den Dr. G. W.
    Hambleton an die Innenseite seiner Perücke geklebt hatte.
    Der junge Mann von ordentlichem Aussehen prüfte mich mit einem kurzen Blick, als ich den Abschnitt und etwas Geld gegen ein halbes Dutzend glänzende Abzüge eintauschte - achtfache Vergrößerungen des Negativs. Er sagte nichts, aber so wie er mich ansah, schien er sich zu erinnern, daß ich nicht der Mann war, der das Negativ gebracht hatte.
    Ich ging hinaus, setzte mich in den Wagen und betrachtete den Fang. Auf den Bildern waren ein Mann und ein blondes Mädchen zu sehen, die in einer vollbesetzten Kabine eines Restaurants saßen und was zu essen vor sich hatten. Sie blickten auf, als seien sie plötzlich aufmerksam geworden und hätten kaum noch reagieren können, bevor die Kamera klickte. An der Beleuchtung war zu sehen, daß kein Blitzlicht benutzt worden war.
    Das Mädchen war Mavis Weld. Der Mann war ziemlich klein, ziemlich dunkel, ziemlich ausdruckslos. Ich erkannte ihn nicht. Kein Grund, warum ich ihn hätte erkennen sollen.
    Das Lederpolster hatte ein Muster mit kleinen tanzenden Paaren. Es war also das Lokal
    >The Dancers<. Dadurch wurde es noch weniger klar. Ein Fotoamateur auf Jagd, der ohne Genehmigung des Geschäftsführers Schnappschüsse versuchte, würde da so schnell rausfliegen, daß er bis nach Hollywood und Vinestreet rollte. Ich dachte mir, es muß wohl mit einer versteckten Kamera gemacht worden sein, so wie sie Ruth Snyder im elektrischen Stuhl geknipst haben. Er mußte die kleine Kamera an einem Riemen unter dem Kragen gehabt haben, die Linse guckte aus der offenen Jacke, und er hatte sich vielleicht einen Auslöser gebastelt, den er aus der Tasche betätigen konnte. Es war nicht besonders schwer zu erraten, wer das Bild geknipst hatte. Mr. Orrin P. Quest mußte sich rasch und geschmeidig bewegt haben, daß er so herauskam und das Gesicht noch vorn am Kopf hatte.
    Ich steckte die Bilder in die Westentasche, dabei berührte ich mit den Fingern einen zerknitterten Zettel. Ich holte ihn raus und las: »Doktor Vincent Lagardie, Wyoming Street 965, Bay City.«
    Das war der >Vince<, mit dem ich telefoniert hatte und den Lester B. Clausen vielleicht versucht hatte zu erreichen.
    Ein älterer Polyp schlenderte an einer Zeile von geparkten Wagen entlang und markierte die Reifen mit gelber Kreide. Er sagte mir, wo die Wyoming Street war. Ich fuhr hin. Es war eine ost-westliche Straße, ein gutes Stück außerhalb des Geschäftszentrums; sie lief parallel zu zwei numerierten Straßen. Die Nummer 965, ein grauweißes Holzhaus, lag an einer Ecke. An der Tür ein Messingschild mit der Inschrift
    >Vincent Lagardie, Dr. med., Sprechstunden 10.00-12.00 und 2.30-4.00<.
    Das Haus sah ruhig und anständig aus. Eine Frau mit einem widerspenstigen kleinen jungen stieg die Treppe hinauf. Sie las das Schild, sah auf eine Uhr, die an ihrem Revers angesteckt war und kaute unentschlossen auf ihrer Lippe. Der kleine junge sah sich vorsichtig um und trat sie dann an den Knöchel. Sie fuhr zusammen, aber ihre Stimme war geduldig. »Aber Johnny, das macht man doch nicht mit Tante Fern«, sagte sie milde.
    Sie öffnete die Tür und zerrte den kleinen Affen hinter sich hinein. Schräg gegenüber, an der Kreuzung, lag ein großes, altväterliches Haus mit einem bedeckten Säulenvorbau, der für das Haus viel zu klein war. Im Rasen davor waren Scheinwerfer eingesteckt. Zu beiden Seiten des Zugangwegs standen Rosenbüsche in Blüte. Auf einem großen Schild über dem Vorbau stand >Garland, Haus des ewigen Friedens<.
    Ich überlegte mir, wie es Dr. Lagardie gefiel, wenn er aus seinem Fenster auf das Bestattungsinstitut blickte. Vielleicht bewog es ihn zur Vorsicht.
    Ich kehrte an der Kreuzung um und fuhr zurück nach Los Angeles; ich ging in mein Büro, um nach der Post zu sehen und um meine Beute aus dem Bay City-Fotoladen in den stark lädierten grünen Tresor zu schließen - mit Ausnahme eines Abzuges. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und betrachtete den Abzug durch ein Vergrößerungsglas. Auf dem Tisch, vor dem dunklen, dünnen, ausdruckslosen

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