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Die Kleptomanin

Die Kleptomanin

Titel: Die Kleptomanin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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man nur finden kann. Wir haben es hier ganz zweifellos mit einem Fall von Aschenputtel-Komplex zu tun. Sie erinnern sich vielleicht an das Märchen von Aschenputtel.«
    »Ein französisches Märchen – mais oui.«
    »Aschenputtel, die unbezahlte Schwerarbeiterin, sitzt am Feuer. Ihre Schwestern gehen zum Ball, in ihren besten Abendkleidern. Eine Fee schickt Aschenputtel auch zu diesem Ball. Aber Punkt Mitternacht werden ihre feinen Kleider wieder zu Lumpen. Sie flieht in Eile und lässt einen Schuh zurück. Also haben wir es hier mit einem Hirn zu tun, das sich selbst mit Aschenputtel vergleicht (unbewusst natürlich). Wir haben es mit Frustration, Neid und einem Minderwertigkeitsgefühl zu tun. Das Mädchen stiehlt einen Schuh. Warum?«
    »Ein Mädchen?«
    »Selbstverständlich ein Mädchen«, sagte Colin tadelnd. »Das sollte selbst dem schlichtesten Gemüt klar sein.«
    »Aber Colin«, sagte Mrs Hubbard.
    »Fahren Sie bitte fort«, sagte Poirot höflich.
    »Wahrscheinlich weiß es selbst nicht, warum es das tut – aber sein innerer Wunsch ist klar. Es will die Prinzessin sein, will vom Prinzen gefunden und geheiratet werden. – Ein anderer wichtiger Punkt ist natürlich, dass der Schuh einem attraktiven Mädchen gestohlen wird, das zu einem Ball geht.«
    Colins Pfeife war längst ausgegangen. Er fuchtelte in steigender Erregung damit in der Luft herum.
    »Und jetzt wollen wir einmal die anderen verschwundenen Gegenstände ins Auge fassen. Lauter schöne Dinge – alles Sachen, die mit weiblicher Schönheit zu tun haben. Puderdose, Lippenstift, Ohrringe, ein Armband, ein Ring – da haben wir gleich eine doppelte Bedeutung. Das Mädchen will Aufmerksamkeit erregen. Es will sogar bestraft werden – wie das ja oft der Fall ist bei jugendlichen Straftätern. Diese Dinge fallen alle nicht unter die Kategorie normaler krimineller Diebstähle. Es ist nicht der Wert der Dinge, worauf es ankommt. Es ist genauso, wie wenn wohlhabende Frauen ins Kaufhaus gehen und Dinge entwenden, die sie sich genauso gut kaufen könnten.«
    »Unfug«, sagte Mrs Hubbard kämpferisch. »Einige Leute sind eben einfach unehrlich, das ist alles.«
    »Und doch war ein Diamantring von einigem Wert unter den gestohlenen Gegenständen«, sagte Poirot, Mrs Hubbards Einwurf ignorierend.
    »Der wurde zurückgegeben.«
    »Aber ich denke, Mr McNabb, sie würden ein Stethoskop nicht als ein typisch weibliches Schmuckstück bezeichnen?«
    »Das hat eine tiefere Bedeutung. Frauen, die das Gefühl haben, dass es ihnen an weiblichen Reizen fehlt, suchen häufig eine Ersatzbefriedigung in der beruflichen Karriere.«
    »Und das Kochbuch?«
    »Ein Symbol für Haus, Ehe und Familie.«
    »Und das Borax?«
    »Mein lieber Monsieur Poirot«, sagte Colin gereizt. »Niemand würde Borax stehlen. Warum sollte er?«
    »Genau das habe ich mich auch gefragt. Ich muss zugeben, Mr McNabb, dass Sie eine Antwort auf alle Fragen zu haben scheinen. Würden Sie bitte die Güte haben, mir die Bedeutung der verschwundenen alten Flanellhose zu erklären – Ihrer Flanellhose, soweit ich weiß.«
    Zum ersten Mal wirkte Colin verunsichert. Er wurde rot und räusperte sich. »Ich könnte das erklären – aber das wäre ziemlich kompliziert und vermutlich – nun ja, etwas peinlich.«
    »Danke, dass Sie es mir ersparen, rot zu werden.« Plötzlich lehnte Poirot sich vor und tippte dem jungen Mann aufs Knie. »Und die Tinte, die der Studentin über ihre Arbeit gegossen wurde? Und der zerschnittene und zerfetzte Seidenschal? Beunruhigt Sie das gar nicht?«
    Alle Selbstgefälligkeit und Überlegenheit wich plötzlich aus Colins Verhalten. »Doch«, sagte er. »Glauben Sie mir, das beunruhigt mich. Das ist ernst. Sie muss in Behandlung – sofort. Aber in medizinische Behandlung, das ist der Punkt. Das ist kein Fall für die Polizei. Sie handelt völlig zwanghaft. Wenn ich…«
    Poirot unterbrach ihn. »Sie wissen also, wer es ist?«
    »Nun, ich habe zumindest einen starken Verdacht.«
    Poirot murmelte, als ob er zusammenfassen würde: »Ein Mädchen, nicht besonders erfolgreich bei Männern. Ein schüchternes Mädchen. Ein gefühlvolles Mädchen. Ein Mädchen, das etwas langsam denkt. Ein Mädchen, das sich frustriert und einsam fühlt. Ein Mädchen…«
    Es klopfte. Poirot unterbrach sich. Das Klopfen wiederholte sich.
    »Herein«, sagte Mrs Hubbard.
    Die Tür öffnete sich, und Celia Austin trat ein.
    »Ja, genau«, sagte Poirot und nickte mit dem Kopf. »Ganz genau. Miss Celia

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