Die Klinge des Löwen 02
länger.
Wie Dietrich vorausgesagt hatte, ließ der Husten des Knaben in
der Sonnenwärme rasch nach. Als wollten sie den Winter nun
endgültig verjagen, trug ein wachsender Chor gefiederter Sänger
ungestüm sein Lied gen Himmel, daß es zwischen den hohen
Fichten widerhallte. Sie jubilierten aus voller Kehle dem Frühling
entgegen, der jetzt erneut und wohl endgültig Einzug hielt. Ein
emsiges Treiben schien die Vögel des Waldes ergriffen zu haben.
Unermüdlich trugen sie die Botschaft des Aufbruches in die neue
Jahreszeit, die Wärme, Nahrung und neues Leben verhieß, in
alle stillen Winkel.
Als
die Sonne im Zenit stand, war Roland immer noch nicht eingetroffen.
Dietrich wollte nicht länger warten. Er hatte sich vorgenommen,
den gefährlichen Geroldswald in einem Zug zu durchqueren, und so
gab er nach diesem vergeblichen Harren schließlich das Zeichen
zum Aufbruch. Nachdem alle aufgesessen waren, setzte sich der Zug
gemächlich in Bewegung. Dietrich ritt an der Spitze und suchte
den jeweils günstigsten Weg für die Schar, während
Giselbert als Nachhut diesmal alle drei Saumpferde mit sich führen
mußte, die er der Einfachheit halber aneinander gebunden hatte.
Zwischen den beiden Männern ritten die Frauen. Ida hatte das
Kind vor sich im Sattel und es trotz der Wärme sorgsam in eine
Decke eingehüllt. Dort, wo die Sonnenstrahlen nicht hinkamen,
wehte nämlich noch immer ein empfindlich frischer Wind, der die
Kälte der Schneefelder von den höheren Bergen ringsum mit
sich führte.
Der
Geroldswald war eine teilweise schwer zugängliche Wildnis aus
dunklem Fichten- und Tannenwald. Auch die vereinzelt dazwischen
wachsenden Buchen und Eichen vermochten der düsteren Gegend kein
freundliches Gesicht zu verleihen. Aber vor allem war es das Gewirr
von niedergebrochenen Stämmen und Jungholz, die Mensch und Tier
das Fortkommen erschwerten. Häufig mußten sie absteigen
und sich mühsam einen Weg suchen. Dabei blieb ihnen nichts
anderes übrig, als die Reittiere am Zügel zu führen,
was besonders den Frauen schwer fiel, da sie in ihren langen
Gewändern ständig mit dem Gestrüpp zu kämpfen
hatten und mehr als einmal daran hängen blieben. Oft mußten
sie zeitraubende Umwege in Kauf nehmen, um undurchdringliches Gelände
zu umgehen.
Als
am Sonnenstand zu erkennen war, daß der Nachmittag bald zu Ende
ging, hatten sie nach Dietrichs Schätzung erst die Hälfte
des Geroldswaldes durchquert. Seine Hoffnung, das verfluchte Gebiet
heute noch hinter sich zu lassen, schwand allmählich.
Sie
befanden sich nahe einer Felsengruppe, die wie ein riesiger Thron
geformt war und einsam mitten im Wald emporragte. Mehrere
Findlingsblöcke stützten eine umfangreiche und mehr als
zwei Fuß dicke Felsplatte, die in doppelter Mannshöhe ein
fast ebenes Plateau bildete. Auf einer Seite ragte ein spitz
zulaufender Fels wie eine hohe Lehne senkrecht über den
Plattenrand empor, so daß es aussah, als hätten sich
Urweltgötter mit dieser Gesteinsformation eine Sitzgelegenheit
geschaffen. Unmittelbar hinter der Felsenlehne erhob sich eine
mächtige Buche, deren Blattknospen zum Teil schon aufgesprungen
waren und deren glatter, hoher Stamm dieses Bauwerk der Natur zu
stützen schien.
„ Wie
seltsam“, sagte Ida verwundert. „Wie mögen die
Steine wohl hierher gekommen sein?“
„ Wer
weiß? Vielleicht haben hier einst die Kinder von Riesen
gespielt.“ Dietrich lächelte der Gräfin zu, die den
Knaben auf dem Arm hielt.
„ Das
ist eher Teufelswerk“, meldete sich mit kritischer Stimme
Bertha. „Und wie düster es hier herum aussieht...“
Ida
schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf. „Du
denkst natürlich immer nur an das Schlimmste, Bertha. Natürlich
ist es hier etwas dämmrig, aber das kommt von den dichtstehenden
Bäumen, und nicht vom Teufel!“
„ Ja,
natürlich“, pflichtete Dietrich bei. „Und soviel ich
mich erinnere, habe ich von diesen Felsen schon erzählen hören.
Ich meine, man nennt diese Anhäufung von Steinen Heidentempel.“
„ Also
doch!“ sagte Bertha, und ihre Stimme klang erschrocken. „Heiden
sind ja mit dem Teufel im Bunde!“
„ Komm,
Bertha, steigere dich jetzt nicht in etwas hinein, was nicht
existiert“, sagte Ida ungehalten. „Nimm mir lieber das
Kind ab, dann kommst du auf andere Gedanken!“
Mit
einem zornigen Blick auf die Zofe reichte sie ihr den Knaben.
Dietrich ließ seine Blicke in die Runde schweifen und sah etwas
entfernt eine Bewegung von brauner Farbe zwischen
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